Niklaus Schmid


Direkt zum Seiteninhalt

Story 2019

Neue Story 2019


Dir bleibt wenig Zeit

I.

„Guten Abend! Bohnhoff ist mein Name. Ja, bitte?“
...Er hat eine ruhige Stimme, dachte die Anruferin, angenehmer als die des Mannes von der Telefonseelsorge. Er nennt seinen Namen. Und dennoch, was bringt es. Ihr Finger schwebte schon über der Taste, um die Verbindung zu unterbrechen, als sie hörte: „Hallo, sprechen Sie doch bitte. Es ist nicht schön, wenn man angerufen wird und keiner sagt etwas.“
...„Ich ... ich will auch gar nicht viel sprechen. Ich wollte Ihnen eigentlich nur sagen, dass ich ... dass ich Schluss machen will ... mit dem Leben. Ich will mich erschießen.“

*

...„Sicher sind Sie sehr unglücklich, Frau ...?“
...„Nein, bin ich gar nicht.“
...„Aber weshalb wollen Sie so etwas tun?“
...„Ich weiß es nicht. Es gibt keinen bestimmten Grund. Ich bin's einfach nur leid.“
...„Was sind Sie leid?“
...„Alles. Das Leben. Ich musste das jemandem sagen. Deshalb hab ich ... weil ... ach, ich weiß nicht warum. Oder doch: Ich habe mal in einer Anzeige den Satz gelesen Ihr Anruf bei uns kann ein Leben retten – Ihr eigenes. So oder ähnlich. Ein guter Werbespruch. Aber was soll's. Ich habe gar nicht erwartet, dass Sie mir helfen können.“ Hastig, weil sie sich des Widerspruchs bewusst wurde, fügte sie hinzu: „Trotzdem vielen Dank. Ich habe mich ja schon lange entschlossen.“
...„Es sind immer nur Sekunden, in denen die Menschen zu diesem Schritt wirklich entschlossen sind.“
...„So?“ Weil ihre Stimme mutlos und zugleich

überheblich klang, sagte sie: „Ich lege jetzt auf.“
...
„Warten Sie bitte! Ein Glas Wein. Rauchen Sie eine Zigarette.“
...„Wie banal! Und dann?“
...„Anschließend tun Sie etwas Ungewöhnliches, etwas, wozu Ihnen bisher der Mut gefehlt hat, irgend etwas.“
...„Da weiß ich schon was.“
...„Nein, nein! Alles, aber eben nur das Eine nicht.“ Hastig warf er ein: „Besuchen Sie Freunde, jetzt gleich!“
...„Freunde? Die sehen einen lieber, wenn man lachend die Tür öffnet, nicht in solch einer Situation.“
...„Meist ist das so. Stimmt. Leider. Machen Sie eine längere Reise, ungeplant, riskieren Sie mal was!“
...„Warum?“
...„Damit Sie um Ihre Ruhe, womöglich gar einen Moment lang um Ihr Leben bangen, damit Sie das Leben wieder schätzen lernen.“
...„Ich bin nicht ängstlich.“

**

...„Mag sein. Andererseits hat jeder Mensch mal Angst, nur eben vor ganz verschiedenen Dingen. Ich zum Beispiel habe jetzt Angst davor, dass Sie einhängen. Ich möchte, dass Sie …“
...„Sie möchten mich zum Widerspruch reizen“, unterbrach sie ihn, ziemlich harsch, weil sie wusste, dass er recht hatte. Denn auch sie hatte Angst. Angst, in ihrem Entschluss wankend zu werden. „Ich möchte nicht diskutieren“, sagte sie, diesmal klang es fast wie eine Entschuldigung.
...„Verstehe. Nur noch eines: Kämpfen Sie für eine Sache! Es gibt so viele Ungerechtigkeiten, so viel Elend, es gibt Aufgaben zu erledigen, für sich und andere. Glauben Sie uns! Wir haben unsere Erfahrungen.“
...„Wir? Uns? Sagen Sie mir: Warum machen Sie sich diese Mühe, mit Menschen wie mir?“
...„Weil wir, weil ich Gleichgültigkeit hasse. Wenn man anderen gegenüber gleichgültig ist, wird man auch sich selbst gegenüber gleichgültig. Hallo, hören Sie?“

...„Ich bin müde.“
...„Legen Sie nicht auf. Geben Sie mir noch Ihren Namen und Ihre Anschrift.“
...„Nein, ich möchte nicht, dass unter Umständen jemand vorbeikommt.“
...„Dann wenigstens Ihre Rufnummer. Bitte!“
...Was hab ich nur angerichtet?, ging ihr durch den Kopf. Du hättest nicht anrufen sollen. Jetzt macht sich ein anderer Mensch um dich Sorgen. Gib ihm wenigstens das Gefühl, seine Zeit nicht verschwendet zu haben. Mechanisch nannte sie die Zahlen: „Drei zwei, acht null, zwei acht.“
...„Die Vorwahl? Der Ort? Hallo, sind Sie noch da? Hallo, hallooo …“
...Darauf wollte sie schon nicht mehr antworten. Es war genug. Keine Anrufe. Keine spontane Reise, keine Wohltätigkeit, die sich hinterher womöglich noch als Fehler erweisen sollte.

***

...Und auch keine Zigarette mehr!, ermahnte sie sich, nachdem sie die Zigarettenpackung schon geöffnet und ein Streichholz angerissen hatte.
...Vor zwei Jahren hast du das Rauchen aufgegeben, für ihn, weil er den Aschengeruch in deinem Atem nicht mochte. Nein, keinen Aufschub mehr. Bring es hinter dich. Ohne Feierlichkeit. Schalte ganz normal das Radio ein, so als ob du schlafen gingst.
...… weiterhin Regenfälle. Die Meteorologen erwarten keine Besserung der Lage. So weit die Schlagzeilen des Tages und das Wetter. Nun noch eine Fahndungs-
meldung der Polizei: Gesucht wird Peter Lorrick. Der Mann ist vor zwei Tagen aus dem Gefängnis in Willich ausgebrochen. Er ist 42 Jahre alt, einen Meter achtzig groß, schlank und dunkelhaarig. Dem mehrfach Vorbestraften werden Einbrüche in abgelegene Häuser sowie Gewalt gegen deren Bewohner und …

...Sie drehte die Lautstärke herunter, suchte auf mehreren Sendestationen nach klassischer Musik, fand

nichts, was ihr zusagte, und legte schließlich eine CD ein.
...„Mahler. Die Zehnte, unvollendet, das passt“, murmelte sie.
...Andererseits, kam ihr in den Sinn, ist es aufdringlich theatralisch. Man wird zu rekonstruieren suchen, was du zuletzt gehört und gelesen hast. Man wird sogar untersuchen, was du gegessen und Vermutungen anstellen, was du gedacht hast.
...Mein Gott, bin ich eitel!
...Sie unterbrach die CD, zog eine Schublade auf und entnahm ihr eine Holzschachtel, öffnete sie.
...Da war sie, die alte Pistole. Ein Familienerbstück, hatte er behauptet und auf einen Verwandten verwiesen, der sie aus einem Krieg in Übersee mitgebracht hatte. Der Griff aus schönem, alten Holz war angenehm anzufassen, wie auch der Lauf, kühl und glatt. Sie hat es stilvoll gemacht, wird er denken.


****

Diesen Gefallen kannst du ihm tun. Er hat dir gezeigt, wie du damit umgehen musst – zu deiner Sicherheit, hat er gesagt. Den Hahn spannen, so, die Waffe heben, den Lauf an die Schläfe drücken, Atem anhalten. Der Finger krümmt sich um den Abzug, sucht den Druckpunkt …
...Das Telefon klingelte.
...Es gab nur wenige, die ihre Nummer kannten. Ob er sich nun doch, nach so langer Zeit, wieder melden würde? Und wenn ja, warum gerade jetzt? Weil ... immerhin hatte er oft, wenn auch im Spaß, von seinen telepathischen Fähigkeiten gesprochen. Sei vorsichtig!, hatte er mal gesagt. Ich weiß genau, was meine Geliebte während meiner Abwesenheit treibt. Wie ein Scherz hatte es damals klingen sollen. Und heute? Nein! Ein Blick aufs Display hatte genügt: Anonym. Der Mann von der Krisenbegleitung, wer sonst? Du hättest ihn nicht anrufen sollen. Der stellt nur wieder Fragen auf Fragen. Lass es klingeln!

...Aber es könnte … es könnte ja auch sein, dass er von einem Hotelzimmer aus ... oder mit einem fremden Telefon …
...„Ja?“
...„Bohnhoff. Sie hatten mir eben Ihre Telefonnummer gegeben, aber ich war mir nicht sicher, ob es ein Anschluss hier im Ort ist, und da hab ich es einfach mal ausprobiert. Ist alles in Ordnung?“
...„Sie haben mich gestört, Herr Bohnhoff.“
...„Es wäre unaufrichtig, ja dumm, wenn ich mich jetzt dafür entschuldigte. Denn ich wollte Sie …“
...„Es ist Ihre Aufgabe. Ich verstehe.“
...„Hatten Sie gerade gehofft, dass jemand anders am Apparat ist?“
...„Wieso?“
...„Ihre Stimme hat erwartungsvoll geklungen.“
...„Nein, ich warte auf niemand, auch nicht auf einen Anruf.“

*****

...„Vielleicht nicht so direkt. Aber Sie haben lange gezögert, bevor Sie abgehoben haben. Ich fürchtete schon, mit meinem Anruf zu spät zu kommen.“
...„Stimmt. Ich hatte die Pistole in der Hand, den Lauf bereits an der Schläfe. Ich sagte doch, ich habe mich entschieden.“
...„Ich denke, ich hoffe, dass Sie es nicht tun werden.“
...„Was sollte mich davon abhalten?“
...„Vielleicht der Gedanke, dass Leute, die sich erschossen haben, einen grauenhaften Anblick bieten.“
...„Wie charmant, dass Sie auf meine weibliche Eitelkeit anspielen. Ich weiß, dass es mit Gas oder Tabletten ganz sanft gehen soll; man schläft friedlich ein und kann hoffen, noch rechtzeitig geweckt zu werden. Das andere jedoch ist sicherer.“
...„Andererseits Blut, zersplitterte Knochen. Aber sicherer? Es gibt Leute, die nach dem Selbstmord- versuch mit einer Schusswaffe nur erblindet waren. Glück gehabt – sofern man das Glück nennen kann.“

...„Ich merke schon, warum Sie mir das so deutlich schildern. Werden die Krisenbegleiter eigentlich psychologisch geschult? Ich meine, wie Vertreter?“
...„Ich will Ihnen nichts verkaufen. Ich will Ihnen helfen.“ Er zögerte, wohl aus Scheu, ihr zu nahe zu treten. „Wie heißt der Mann, dessen Stimme Sie eben gern gehört hätten?“
...„Was geht das Sie an? Ach, warum sollte ich es Ihnen nicht sagen. Es ist jetzt einerlei. Er heißt Holger.“
...„Ist Holger Ihr Mann?“
...„Ja, nein: Mein Lebensgefährte.“
...„Was macht er? Ich meine, beruflich.“
...„Er handelt mit Antiquitäten.“
...„Ist er viel unterwegs?“
...„Ja, in England hauptsächlich, aber auch in Tschechien.“
...„Lieben Sie ihn?“
...„Nein, nicht mehr.“
...„Und er, liebt er Sie?“

******

...„Wir sind uns gleichgültig geworden.“
...„Das ist seltsam.“
...„Was?“
...„Es ist äußerst selten, dass sich zwei Menschen zur selben Zeit gleichgültig werden. Meist zieht sich nur einer zurück, und der andere bleibt allein mit seiner Liebe – oder mit seinem Hass.“
...„Es stimmt: Er hat sich als Erster zurückgezogen, aber gehasst habe ich ihn deswegen nie. Warum sollte ich? Dass seine Familie, seine richtige Familie viel von seiner Zeit beanspruchen würde, habe ich immer gewusst. Und dass er für seine Geschäfte viel Zeit braucht, auch dafür musste ich Verständnis haben. Er ist ja auch großzügig. Alles um mich herum gehört ihm, das Haus, die Möbel – und auch das hier stammt von ihm. Sekunde!“
...„O, wie nett!“, entfuhr es dem Anrufer, als er den Klang einer Spieldose vernahm.
...„Hm, ja, ein Geschenk, das er aus Prag mitgebracht hat – Praha sagte er immer mir zuliebe – ein tanzendes Püppchen aus Porzellan. Sei hübsch und warte, hat er

einmal gesagt und es nicht mal ironisch gemeint.
Stunden um Stunden habe ich hier in diesem Sessel, in dem ich auch jetzt sitze, gesessen und gewartet. Ich war unfähig zu einer Beschäftigung. Ich habe ins Kaminfeuer gestarrt und gewartet. Habe gewartet, wenn er mit den Kindern sonntags in den Löwenpark fuhr; habe gewartet, wenn er wochentags zu Geschäftspartnern oder jenen Kunden fuhr, die seine Frau kannten. Zu den Messen, ja da hat er mich manchmal mitgenommen, als seine Sekretärin oder Übersetzerin. Doch das ist lange her.“
...„Sind Sie Dolmetscherin?“
...„Nein, aber ich spreche Tschechisch, es ist meine Muttersprache. Ich komme aus Prag. Von Beruf bin ich Innenarchitektin, war ich, sollte ich sagen.“
...„Warum fangen Sie nicht wieder in Ihrem Beruf an?“
...„Hah! Die warten ja auch auf eine 39-jährige Architektin, auf eine, die seit Jahren aus der Praxis raus ist und … Moment bitte! Da hat …“
...„Was ist?“

*******

...„Mir war, als hätte ich die Klingel der Haustür gehört. Bleiben Sie dran. Ich schaue mal nach.“
...„Und?“
...„Es war nichts. Der Wind, das Mobile im Flur.“
...„Zuvor klangen Sie erwartungsvoll, jetzt eher enttäuscht, beunruhigt.“
...„Vielleicht bin ich überreizt. Dieser dauernde Regen, schon seit Tagen …“
...„Sie wollten mir, glaube ich, von Ihrem Beruf erzählen.“
...„Ach ja, am Anfang unserer Beziehung habe ich noch in einer Architektengemeinschaft gearbeitet, zunächst fest angestellt, später dann als freie Mitarbeiterin. Doch mit der Zeit merkten die Auftraggeber, dass ich das Geld nicht dringend brauchte. Hinzu kam der übliche Neid der Kollegen auf freie Mitarbeiter. Die Aufträge wurden spärlicher. Wahrscheinlich lag es aber auch daran, dass meine Arbeit, nachdem der Zwang zum Geldverdienen weg war, schlechter geworden war. In dieser Situation kam mir Holgers Vorschlag, den Beruf ganz aufzugeben und nur noch für ihn da zu sein,

natürlich recht. So bin ich nach und nach auch in eine finanzielle Abhängigkeit geschlittert. Geschlittert ...“, wiederholte sie und schnaufte leise.
...„Ändern Sie Ihr Leben!“
...„Das ist nicht so einfach, wenn einem der Wille dazu fehlt.“
...„Sie könnten ganz neu beginnen.“
...„Neu! Hah! Einen neuen Liebhaber, einen neuen Beruf? Nein, ich will nicht mehr! Ich will auch nicht mehr sprechen. Es ist dunkel geworden. Es wird Zeit. Ich lasse noch die Rollläden herunter und dann …“
...„Hallo, sind Sie noch dran?“
...„Ja. Doch da ...“
...„Sie zögern. Ist was?“
...„Nein, nein. Da war nur wieder so ein Geräusch. Ich meine, es kam aus dem Keller oder aus dem Vorgarten.“
...„Kann es der Wind gewesen sein?“
...„Ich weiß nicht, ich habe das Gefühl, dass da draußen etwas ist, zwischen den Rosenbüschen, etwas Großes.

********

Die Zweige bewegen sich. Aber das macht nicht der Wind, das ist auch kein Tier. Nein, nein, ganz deutlich, ein heller Fleck inmitten der Sträucher. O Gott, da versteckt sich jemand. Ein Mann! Was mache ich nur?“
...„Bleiben Sie ruhig. Wenn da wirklich jemand ist, was könnte er Ihnen tun? Sie sind doch im Haus.“
...„Ja, aber die Terrassentür, ich glaube, ich habe sie nicht verriegelt. Und wenn doch, die ist leicht aufzubrechen.“
...„Warum sollte das jemand tun?“
...„Da war, jetzt erinnere ich mich, eine Warnung im Radio, eine Suchmeldung der Polizei. Von Einbrüchen in abgelegene Häuser war die Rede. Der Mann sei auf der Flucht. So einer ist zu allem fähig.“
...„Glauben Sie, dass man Sie von draußen sehen kann?“
...„Bestimmt. Im Moment stehe ich mitten im Zimmer, die Deckenleuchte ist an.“
...„Gibt es keine Nische im Raum, keine Stelle, wo man

Sie nicht sehen kann?“
...
„Ich glaube, nein."
...„Sie haben eben von einem Sessel am Kamin gesprochen. Gehen Sie zu dem Sessel zurück, aber mit dem Telefon in der Hand. Setzen Sie sich in den Sessel, drehen Sie ihn herum, und sprechen Sie weiter, auch dann, wenn ich gleich auflege. Ich werde die Polizei anrufen und einen Streifenwagen zu Ihnen schicken. Das wird schnell gehen. Aber halten Sie während der ganzen Zeit das Telefon in der Hand und sprechen Sie laut in den Hörer; zeigen Sie dem Mann da draußen auf keinen Fall, dass Sie ihn gesehen haben.“
...„Ja, aber …“
...„Was ist?“
...„Ich sehe aus den Augenwinkeln seine Bewegungen, schattenhafte, langsame Bewegungen. Er hat sich etwas über das Gesicht gezogen, einen Schal oder eine Wollmaske. Warum macht er das?“
...„Geben Sie mir schnell Ihre Adresse! Ich rufe …“

*********

...„Er hat den Kragen seines Mantels hochgeschlagen. Er nimmt eine Hand aus der Tasche. Er hält etwas in der Faust. Er kommt näher. Ich werde verrückt vor Angst. Er steht schon an der Terrassentür.“
...„Die Adresse! Die Adresse! Halloo, hallooo …“
...Seine aufgeregten Worte hallten in ihren Ohren nach. Keinen Moment zweifelte sie daran, dass der Mann, der sich mit Bohnhoff vorgestellt hatte, ihr helfen wollte. Schließlich war das seine Aufgabe. Aber bis er der Polizei die Situation erklärt hatte, konnte es bereits zu spät sein. Nur keine Zeit verlieren! Selbst die Polizei rufen! Hoffentlich dauerte es nicht zu lang, bis sie hier sein würde. Sie sah, wie der Mann da draußen seine Stirn und eine Hand an die Scheibe presste. Er suchte sie. Zwischen den Windungen des Schals konnte sie seine Nase und die Augen sehen. Zwar verwischten die Regentropfen das Bild und dennoch … Jetzt nahm er die Vermummung ab, grinste und hielt dabei den Kopf schief, wie er … wie er, wenn er überlegen wirken wollte … wie …
...„Holger! Du?“, brach es aus ihr heraus. Ihre Angst

verwandelte sich Wut, als sie sich vorstellte, dass er sie die ganze Zeit beobachtet hatte, schon während sie telefoniert und auch anschließend, als sie sich die Pistole an den Kopf gehalten hatte. „Du Scheusal“, flüsterte sie. „Du hast dich an meinem Leid geweidet.“ Aber warum?, fragte sie sich. Konnte es wirklich sein, dass er darauf wartete, dass sie es tat?
...Gelacht hatte er, als sie ihm mal androhte, sich umzubringen, wenn er sie verlassen würde. Nie hatte er sie ernst genommen. Nie! Aber jetzt! Aufgepasst, Holger!, ging es ihr durch den Kopf. Viel Zeit bleibt dir nicht, deine Meinung zu ändern. An meiner Seite liegt die Pistole. Ich nehme sie in die Hand. Dein Klopfen an der Scheibe nützt dir nichts. Weißt ja, wo die Tür ist, hast einen Schlüssel, komm doch rein. Was erwartest du, eine kleine Show? Wie damals, als wir noch verliebt waren und ich für dich getanzt habe. Wie ein Püppchen hab ich mich gedreht, um dir Freude zu machen. Hattest immer neue Ideen, warst aufgelegt für neue Spielchen, auch riskante. Angst und Lust liegen dicht beieinander, deine Worte, Holger.

**********

Alles vorbei. Die Lust ist uns vergangen. Und Angst machst du mir auch nicht mehr. Schau, wie ich mich bewege. Es ist ganz leicht, sich zu befreien. Tun Sie etwas Ungewöhnliches, hat mir der Mann am Telefon geraten, etwas, wozu Ihnen bisher der Mut gefehlt hat.
Siehst du die Pistole? Du hast mir gezeigt, wie man damit umgeht. Vera, hast du gesagt, es ist zu deiner Sicherheit. Für Notfälle. Heute ist so ein Notfall. Ab heute bin … ich … frei!

II.


„Polizeipräsidium, Polizeimeister Risse.“
...„Ist dort der Notruf? Schicken Sie bitte einen Streifenwagen oder Krankenwagen! Ich habe gerade einen Mann erschossen. Er liegt vor meinem Terras-senfenster. Ich glaube, er ist tot. Ein Unfall.“
...„Nennen Sie bitte Ihren Namen und Ihre Anschrift!“
...„Vera Lenz. Am Wittfeld. Schnell ...“
...„Die Hausnummer?“
...„Es ist das erste Haus in der Straße.“

III.


„Nun, Herr Risse, was meinen Sie?“, fragte Haupt-
kommissar Lebert seinen jungen Kollegen, der den

Anruf entgegengenommen hatte.
...„Exitus. Genau zwischen die Augen. Kaum Blut. Sauberer Schuss, könnte man sagen, wenn man … “
...„Wenn wir zynisch wären – was wir nicht sind“, vollendete Lebert den Satz. Er ließ seine Taschenlampe kreisen. „Eine Menge Spuren an der Scheibe. Fußab-
drücke rund ums Haus, gut sichtbar in den Blumen-
beeten. Die Fliesen der Terrasse sind voller Erde. Sehen Sie?“
...„Ja, er muss sie beobachtet haben, eine ganze Weile. Möglich, dass er sie ganz bewusst erschreckt hat. Panik, Verwirrung. Trotz allem wird man es schwer haben, uns diesen Schuss zu erklären.“
...„Man?“
...„Sie! Na, die Anruferin. Frau Lenz, Vera Lenz.“ Risse stand nah der Terrassentür, er blickte in den erhellten Raum, vermied aber den Kontakt mit der durchschos-
senen Scheibe. „Sie ist allein. Elegant, schlank, Mitte vierzig. Sie setzt sich in einen Sessel am Kamin.“
...„Die Spurensicherung?“
...„Ist im Anmarsch, müsste bald eintreffen. Wir könnten doch schon mal“, schlug Risse vor. „Die Haustür sei offen, hat sie am Telefon gesagt.“


***********

...„Na dann ...“
...Die Klänge einer Spieldose, auf der sich ein Püppchen drehte, und das sanfte Knistern eines Kaminfeuers empfing die Beamten, als sie das Wohnzimmer von Vera Lenz betraten. Gemildert wurde die nahezu weihnachtliche Atmosphäre jedoch dadurch, dass der Geruch einer abgefeuerten Schusswaffe in der Luft lag.
...„Frau Lenz, ich heiße Lebert und das ist mein Kollege Risse, der Ihren Anruf entgegengenommen hat. Erzählen Sie doch mal, Frau Lenz.“
...„Es war ein Unfall.“ Hilflos hob sie die Schulter. Ihre Hände zitterten. „Was gibt es da schon zu erzählen?“
...„Viel! Fangen wir damit an.“ Risse deutete auf die Waffe, die auf dem Boden neben dem Ohrensessel lag.
...„Ich wollte nicht … ich hab nicht … nicht ihn …“ Es sah aus, als würde sie in Tränen ausbrechen, doch dann fragte sie nur: „Muss ich Ihnen das denn überhaupt erzählen?“
...„Gern können Sie die Aussage auch auf der Wache ...“

...„Wieso auf der Wache? Ich hab Sie doch selbst angerufen. Ich dachte, Sie würden mir helfen.“
...„Das wollen wir doch“, übernahm Lebert, „und am besten können wir das, indem Sie uns erzählen, was passiert ist. Vor dem Schuss. Was war da, Frau Lenz?“
...Sie rieb sich mit dem Handrücken über die Stirn, als wollte sie einen Traum verscheuchen ...
...„Das trostlose Wetter, schon seit Wochen. Ich bin viel allein. Holger, mein Mann, mein Lebensgefährte, war, ist …“
...„Der Besitzer dieses Hauses?“
...„Ja.“
...„Gehört ihm auch diese Pistole?“
...„Ja.“
...„Und die lag griffbereit und geladen vor Ihnen auf dem Glastisch?“
...„Nein, ich habe sie aus dem Schrank geholt, um … um sie zu benutzen … um …“
...„Um sich zu verteidigen?“

************

...„Nein, nein …“
...„Was denn?“
...„Ich wollte mir das Leben nehmen. Auf einmal war der Gedanke da: Ich hielt die Pistole an meine Schläfe, wollte gerade abdrücken, da sah ich die grauenhafte Maske an der Scheibe.“
...„Wieso Maske?“
...Die letzten Fragen, knapp und dringend ausgestoßen, hatte nur der Jüngere der beiden Polizisten gestellt. Gut sah er aus, groß, irgendwie drahtig, Dreitagebart. Der Ältere, mit dickem Bauch und braunen Hundeaugen, sah zwar gemütlich aus, aber das konnte täuschen. Wahrscheinlich war er der Gefährlichere der beiden. Sie nahm sich vor, die nächsten Antworten gut abzuwägen. Und dazu gehörte, dass sie den Mann da draußen ja gar nicht erkannt haben konnte.
...„Nun ja, es kam mir vor wie eine Maske, er hatte sich etwas vors Gesicht gehalten, einen Schal, eine Mütze. Als ich die Gestalt sah, fiel mir der Ausbrecher ein, vor

dem gewarnt wurde, ein Gewalttäter, hieß es im Radio. Da stand er nun an der Terrassentür, genau in dem Moment als ich nach der Pistole griff, um mich … wie gesagt … Vor Angst, obwohl das in dem Zusammen-
hang vielleicht komisch klingt, vor Angst war ich wie von Sinnen, der Schuss löste sich und traf ihn, den Mann da draußen im Regen. Ein Unfall.“
...„Ein bemerkenswerter Schuss“, bemerkte der Drahtige, seine Ironie war nicht zu überhören. „Haben Sie Übung mit Handfeuerwaffen, Frau Lenz?“
...„Ein Zufallstreffer.“
...„Wo befanden Sie sich, als es passiert ist?“
...„Dort in dem Sessel am Kamin.“
...„Zeigen Sie uns doch mal ganz genau, wie Sie es machen wollten.“
...„Hier saß ich. So!“
...„Sagen Sie, Frau Lenz, der Sessel, stand der nicht vielleicht quer zum Fenster, als sich der Schuss löste?“

*************

...Der Gemütliche hatte wieder die Befragung übernommen. Sofort wurde ihr bewusst, dass es nun eng wurde und dass sie sich nicht festlegen durfte.
...„Ich … ich weiß es nicht. Es ging alles so schnell.“
Sie blickte ihn an, suchte nach Verständnis in seinem Gesicht.
...Doch schon kam die nächste Frage: „Verdeckte die Lehne, von draußen gesehen, nicht Ihren Kopf, und lag der Lauf der Waffe nicht etwa auf dem Seitenpolster?“
...„Nein! Warum?“
...„Um genaueres Zielen zu ermöglichen, um eine ruhige Hand zu haben.“
...„Was wollen Sie von mir hören?“
...„Die Wahrheit.“
...„Aber ich … ich wollte mich wirklich …“
...„Kennen Sie den Mann da draußen?“

...„N … nein, wie sollte ich?“
...„Sie könnten ihn immerhin erkannt haben, trotz der regennassen Scheiben. Als er da stand, vor dem Schuss, oder als er da lag, nach dem Schuss.“
...„Es war ein Unfall, ein unglückseliger Schuss. Ich wünsche, er hätte mich getroffen. Sie müssen mir glauben. Ich hatte schon …“
...„Müssen wir das?“, unterbrach der Drahtige. „Wir gestatten uns gewisse Zweifel an Ihrer Selbsttötungs-
absicht.“
...„Moment mal“, warf der Gemütliche ein. „Natürlich, Frau Lenz, können Sie die Aussage verweigern.“
...„Und wir können Sie mit aufs Revier nehmen“, sagte der Drahtige und ergänzte: „Zur Zeugenaussage … Verdacht der vorsätzlichen oder fahrlässigen Tötung … kommen Sie bitte!“

**************

...Sie war es leid. Man glaubte ihr nicht, was nicht verwunderlich war. Vieles sprach gegen sie. Sollte man sie doch mitnehmen, weg von diesem Ort … Ihr Gedankengang wurde vom Klingeln des Telefons unterbrochen.
...„Darf ich, Frau Lenz?“, fragte der Gemütliche. „Danke!“ Er hob ab: „Ja, bitte?“
...„Guten Abend. Ich hatte gehofft, wie soll ich's sagen, ich hatte gehofft, dass sich eine Frau melden würde.“
...„Ach ja. Wer spricht denn dort?“
...„Mein Name ist Bohnhoff. Wir wurden von diesem Anschluss aus angerufen. Eine Frau sprach von Selbstmordabsichten. Wir wollten uns nur vergewissern, ob alles in Ordnung ist.“
...„Einen Augenblick!“ Lebert drehte sich um, winkte mit dem Telefon. „Frau Lenz, ein Herr Bohnhoff, man macht sich Sorgen um Sie.“
...„Hallo! Nein, nein, machen Sie sich keine Sorgen. Es sind, wie Sie schon sagten, immer nur Sekunden, in denen man wirklich dazu entschlossen ist. Nein, keinerlei Selbstmordgedanken mehr. Ja, Sie haben recht: Es gibt noch so viel zu erledigen. Ich werde kämpfen.“

...„Können Sie jetzt wohl?“, drängte Risse.
...
„Ich bin bereit. Gehen wir.“
...„Nein, nicht mit uns zum Revier, sondern nach draußen, um einen Blick auf den Toten zu werfen, Frau Lenz?“ Für einen Augenblick war ihr, als ob die Beine ihren Dienst verweigern würden, dann folgte sie den Polizisten.
...„Aber, das ist, das ist nicht, ich meine … wer?“
...„Sein Name ist Peter Lorrick, ein entflohener Häftling. Auf sein Strafkonto gehen Einbrüche in Häuser und Gewaltanwendung gegen die Bewohner.“ Und nach einer Weile: „Haben Sie jemand anderen erwartet, Frau Lenz?“

IV.

„Ich möchte wetten, dass sie gezielt auf ihn geschossen hat“, beharrte Risse wenig später auf der Polizeiwache.
...„Nein.“
...„Was nein? Nicht gezielt?“
...„Doch!“
...„Was denn nun?“
...„Ja, gezielt. Aber nicht auf ihn – sondern auf jemand anderen.“


- ENDE -



Aktualisiert am 15. März 2024 | kontakt@niklaus-schmid.de

Zurück zum Seiteninhalt | Zurück zum Hauptmenü