Niklaus Schmid


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Brief von nebenan:
Formentera - ganz groß in
Kleinigkeiten

Teil 1: Der Besuch


"Auf Ibiza scheint jetzt die Sonne. Wie wär's, Elmar, hättest du Lust?", fragte sie.
"Nein, danke", sagte ich. Mir ging es nicht so gut. Meine finanzielle Lage war schlecht und das Wetter auch …

Motorengeräusch. Ein Auto hält. Ich fahre Windows herunter. Endlich ein guter Grund, die Arbeit an meinem Krimi zu unterbrechen. Besuch kommt. Wenig später sitzen wir unter dem Vordach der Finca und reden, über die Insel, über die Jahreszeit und wie schön die sei.
Die Saison ist vorbei, verschwunden sind die Motorroller und der Hitzedunst. Man sieht Wolkenbilder am Himmel, vereinzelte Fahrräder auf den Feldwegen und Leute, die die Herbstsonne genießen, ins noch warme Wasser springen oder am Strand ein Buch lesen.

"Gutes Stichwort! Wie wär's mit einem Buch über Formentera?", fragt mein Besuch. Er heißt Georg Stein. Er hat schon viele Bücher gemacht, über den Nahen Osten und Arafat, über Bob Marley und Bob Dylan. "Passt doch alles, oder?"
Bob Marley war auf Ibiza, wende ich ein. Und Bob Dylan - ich wiege den Kopf, der wird zwar immer in allen Reiseberichten genannt; mal soll er in dieser Kornmühle gewohnt haben, mal in jener Blowin' In The Wind geschrieben haben, dennoch gehört sein Aufenthalt wohl eher ins Reich der vielen Legenden, die es über Formentera gibt.

"Und?" Georg Stein zuckt die Achseln. Recht hat er.
Wir trinken Tee, und irgendwann sind wir uns dann einig: Ein Buch über Formentera. Über Musik und Kunst, über die Leute und die Landschaft, über Geschichte und Geschichten.
"Adiós!" Mein Besuch verabschiedet sich. Er will von sich hören lassen. Ich warte.

Wochen vergehen, Monate. Die Insel zieht sich die Decke über die Ohren, längst sind die meisten Restaurants geschlossen, die Fenster vieler Geschäfte mit Zeitungen verklebt.


D
ie Einheimischen fahren wieder zum Fischfang aufs Meer, die Saisonarbeiter nach Hause. Es kommen Leute, die vor dem Weihnachtsrummel in Deutschland geflohen sind.

Mandelblüte ist schon Ende Januar.

Kurz darauf, im März, erwacht die Insel dann wieder aus ihrem Winterschlaf, Wildblumen blühen, ganze Landstriche färben sich gelb, blau und rot. Die schirmartig abgestützten Feigenbäume bilden wieder ihr charakteristisches Blätterdach.
Und Ostern kommen die ersten Besucher; sie sehen Eidechsen auf sonnenwarmen Steinen und Lämmer, die über Felder mit frischem Korn staksen. Bienen summen, Kneipenwirte stellen die Stühle in die Sonne - Saisonbeginn.

Und ich frage mich: War da nicht was mit einem Auftrag aus Deutschland? Doch mein Telefon bleibt still ...

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Teil 2: Der Anruf

Es kommt der Juni. Der Thymian blüht, und über die Feldwege knattern wieder die ersten Motorroller; im Juli sind es schon ganze Kolonnen. Wer im August nach Formentera kommt, der ist enttäuscht. Zu viele Leute. Staub. Hitze.
Am besten alle Fenster schließen und auch die Fincatür. Die Sonne soll draußen bleiben - ich will nichts sehen und nichts hören. Ich will in Ruhe schreiben:

Es war einer dieser Tage, an denen es im Ruhrgebiet nicht richtig hell wird, weil sich die Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang hinzieht. An solchen Tagen verprügeln Väter grundlos ihre Kinder und Ehefrauen brennen mit dem erstbesten Vertreter durch, sofern dieser sie nur ein wenig anlächelt.
Ich stand am Fenster meines Büros nahe dem Duisburger Innenhafen und … griff … ich gähnte… ich trank …

Tja, was macht mein Romanheld Elmar Mogge im regennassen Duisburg, was macht er nur?
Verflixt, mir fiel nichts ein. Nichts. Nada. Mein Kopf so leer wie … wie …
Das Telefon klingelt. Am Apparat ist Georg Stein, Palmyra Verlag, Heidelberg. Was ich gerade so mache. Nun, ich schreibe einen Krimi, der im Ruhrpott spielt, es ist Winter, mein Held hat einen harten Tag hinter sich und ist erkältet. Und er … Sekunde, bitte!

… ich rieb mir das stoppelige Kinn und fühlte mich ziemlich hässlich. Es war einer dieser Momente, wo mir ein Hund fehlte, der mir seine Freundschaft zuwedelte. Womöglich würden auch ein paar Tage Sonne helfen …

"Hallo, sind Sie noch dran?"


"E
ntschuldigung! Was haben Sie gesagt?"
"Es geht um das Inselbuch."

Na endlich! Ich schicke Privatdetektiv Elmar Mogge mit einer Tasse Fencheltee zu Bett und sage: Aber ja doch, klar, ich erinnere mich, letztes Jahr, das Formentera-Buch. Nein, nein, höre ich, ein Inselbuch, In-sel-buch, das heißt, mehr was über Ibiza. Natürlich würde ich gern ein Buch über Fomentera machen, denn ich mag die Insel wirklich sehr.

Aber wissen Sie, Ibiza bietet einfach mehr, die Insel ist größer, es gibt mehr Besucher, mehr Kultur, mehr Musiker, mehr von allem. Aber, hören Sie, das mit Formentera gilt immer noch, das heißt allerdings nur ein Kapitel. Ja, nur eins. Also, ein Beitrag über Geschichte, Kultur, Natur und natürlich über den Unterschied zu Ibiza, gewissermaßen …

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Teil 3: Herr Stein macht ein Angebot


Schon verstanden. Für ein dickes Buch über Ibiza soll ich ein kleines Kapitel über Formentera schreiben. Zehn oder fünfzehn Seiten, mehr darf es nicht sein. Formentera nur als Anhängsel.

Das alte Lied, sagt meine Frau, nachdem ich ihr von dem neuen Vorhaben erzählt habe. Eine Unverschämtheit, tobt ein Freund, er rät mir, den Auftrag abzulehnen. Leicht gesagt, der Freund hat ein Ferienhaus auf Formentera und wohnt in einer Jugendstilvilla in Hamburg. Vielleicht ist er nicht der geeignete Ratgeber. Da frage ich doch lieber meinen Helden Elmar Mogge, der sich in Duisburg als Ein-Mann-Betrieb durchschlägt und eines Tages den Anruf eines Taubenzüchters erhält, der ihn um Hilfe bittet …

"Herr Mogge, es sollte einer von außerhalb des Vereins mit dabei sein und da dachte ich, dass Sie …"
Zugegeben, komplizierte Fälle sind nicht mein Gebiet. Aber war ich schon so weit unten, mich mit einem Taubenmord befassen zu müssen?
In diesem Moment hätte ich höflich auf mangelnde Zeit verweisen oder direkt einhängen sollen. Stattdessen nannte ich meinen Tagessatz.
"Einverstanden", sagte der Taubenzüchter.

"Einverstanden", sage ich zu meinem neuen Verleger Georg Stein und nenne ihm meine Bedingungen. Einverstanden auch er. Bleibt nur noch das Problem, wie ich's meinem Hamburger Freund und all meinen Bekannten auf der Insel beibringe, dass ihre geliebte Insel nur ein paar Seiten wert ist. Nun, denen werde ich später, wenn


d
as Buch herauskommt, Folgendes sagen, und zwar mit einer Stimme, wie die von Marlon Brando in Der Pate:
"Mein Freund", werde ich sagen, "es gibt Angebote, die kann man
nicht ablehnen. Capisce?" Das Knappe, die Beschränkung - das passt doch zu unserer eher kargen Insel.

Wie hatte es mein Verleger formuliert: Ein knapper, wenngleich profunder Bericht soll es sein, kritisch, aber auch nett, Geschichte und Gesellschaftliches soll er behandeln. Musik und Kunst mit rein und, bitte schön, den Unterschied zu Ibiza herauskitzeln. Landschaft. Tierwelt. Pflanzen. Fehlt noch was? Ach ja, wichtig, die magische Anziehungskraft dieser kleinen, flachen Insel, das muss irgendwie rüberkommen.
Ich mache mich an die Arbeit ...

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Teil 4: Wikingersegel am Horizont


Wie aber den Zauber einer Insel beschreiben, die so gar
nichts Sensationelles hat? Helle Sandstrände und blaue Buchten
findet man auch anderswo auf den Balearen. Die Olivenbäume
sind nicht sehr alt, es gibt kaum historische Bauten,
und Formenteras Beitrag zur spanischen Küche sind luftgetrocknete
Fische. Die höchste Erhebung misst genau 192 Meter,
die Natursteinmauern sind schön, aber recht vernachlässigt.
Das Licht, ja, stimmt, das Licht ist wirklich einmalig. Aber
da wäre ein Maler berufener. Lieber will ich über Menschen
sprechen, das ist einfacher.

Da waren zunächst die Ureinwohner, die am Salzsee das Megalithgrab
Ca Na Costa hinterließen, mit Grabbeigaben, wie man sie nicht einmal auf Ibiza gefunden hat. Nach ihnen kamen die Phönizier, die nahe dem Salzsee die Salinenbecken anlegten. Dann die Römer, die bei Es Caló ein Kastell errichteten, dessen Grundmauern noch erhalten sind. Ihnen folgten Vandalen, Byzantiner und Mauren, eben all jene Eroberer, die zunächst Ibiza anvisierten und anschließend, mehr nebenbei, auch die kleine Schwesterinsel in die Tasche steckten.

Die Araber pflanzten die ersten Dattelpalmen, Aprikosen- und Orangenbäume, und sie legten auf der Insel, die über keinerlei Quellen verfügt, die
norias an, jenes ausgeklügelte System aus Brunnen, Vorratsbecken und Zulaufrinnen, das man heute noch bewundern kann. Die Normannen hinterließen keine bleibenden

Bauwerke, dafür aber die Legende von der Cova des Fum ….

Es geschah in der Zeit, als maurische Seeräuber ihre Beute mit Vorliebe auf Formentera versteckten.
Doch wie das so ist, das Anhäufen von Reichtümern bleibt nie lange geheim.

Eines Tages im Jahr 1108 tauchten am Horizont Wikingersegel auf.
Nach Golde drängt, am Golde hängt … Da den Nordmännern
genau dieser Ruf vorauseilte, zogen sich die Mauren samt ihren
Schätzen in eine Höhle auf dem Hochplateau zurück, die
vom Meer her uneinnehmbar war. Und was machten die Wikinger?


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Teil 5: Aus Fischern werden Seeräuber


Sie stürmten unter ihrem Anführer Sigurd die Insel an einer leicht zugänglichen Stelle, kletterten auf die Felsen oberhalb der Höhle und ließen sich in einem Boot hinunter - wie Fensterputzer an einem Hochhaus. Statt Wasser brachten die Wikinger jedoch Feuer. Brandpfeile, Reisig, Baumharz. Sie räucherten das Piratenversteck aus, sackten die Schätze ein, strichen die Segel. Zurück ließen sie eine pechschwarze Höhle, die seitdem Cova des Fum, Räucherhöhle, heißt.

Ein schwerer Schlag für die muslimischen Bewohner Formenteras. Doch noch weit härter sollte es sie gut hundert Jahre später treffen. Nachdem die christlichen Heere 1235 die Stadtmauern von Ibiza durchbrochen und somit den Mauren die Insel entrissen hatten, verjagten sie die Muselmanen auch von Formentera. Hier bauten die neuen Siedler, Männer aus Aragonien und Katalonien, eine Kapelle, deren Reste bis in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts unbeachtet zwischen Neubauten und Ziegenställen stand. Diese inzwischen restaurierte Capella de sa Tanca Vella in Sant Francesc ist das einzige Zeugnis aus der damaligen Zeit, die eine äußerst unruhige war.

Auf den Pityusen waren die Mauren besiegt, doch die Angriffe von muslimischen Seeräubern versetzten die Inselbevölkerung weiterhin in Angst und Schrecken. Zu den unter Piratenflagge segelnden Sarazenen, wie die Araber im Mittelalter genannt wurden, gesellten sich Freibeuter englischer, französischer, vor allem aber türkischer Herkunft.


D
ie Ibicencos konnten in ihre festungsartigen Kirchen flüchten, den Formenterensern aber blieb nichts anderes übrig, als ihre unbefestigte Insel aufzugeben. Ab und zu werden sie wohl auf ihrem Eiland nach dem Rechten gesehen haben. Doch eine ständige Bevölkerung konnte sich nicht halten, da die Insel zu wenig Schutz gegen Eindringlinge bot.

Erst im achtzehnten Jahrhundert, als sich die Ibicencos selbst zu gefürchteten Seeräubern entwickelten, konnte Formentera wieder besiedelt werden.

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Teil 6: Pepe de sa Fonda und Formentera Lady

Um die Konkurrenz, die ebenfalls unter schwarzer Flagge segelte, besser im Auge behalten zu können, bauten die Formenterenser an allen wichtigen Inselecken Wachtürme, von denen sie, sobald feindliche Schiffe in Sicht kamen, Warnsignale an die Bevölkerung sandten. Im künftigen Hauptort aber errichteten sie eine dem heiligen Francesc Xavier geweihte Festungskirche und bestückten sie mit Kanonen.

Die folgenden zwei Jahrhunderte schlief die Insel ihren Dornröschenschlaf, aufgeschreckt durch gelegentliche Überfälle und richtig wachgerüttelt durch den Bürgerkrieg, der hier, wo die Familienbande noch enger als auf der Nachbarinsel waren, schlimmste Wunden riss. Die Ruinen eines Gefangenenlagers, das damals errichtet wurde, stehen noch heute bei La Savina.

In den fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts kamen die ersten Ausländer, die sich auf Formentera niederließen, unter ihnen Entwurzelte, die vor einem Krieg geflohen waren, und Künstler wie das israelische Malerehepaar Sioma Baram und Bella Brisell. Hajo Schedlich, der spätere Redaktionsleiter beim ZDF, quartierte sich mit seiner Schreibmaschine in einem Zimmer der gerade errichteten
Fonda Pepe ein und schrieb für die FAZ einen Artikel über das "arme, felsige Eiland". Und der berühmte deutsche Surrealist Mac Zimmermann baute sich ein Haus bei Es Caló.

Nach diesen Pionieren kamen ab Mitte der sechziger Jahre die Hippies. Das war die Zeit, als Bob Dylan bei seinen Konzerten angeblich in einem Schafwollpullover aus Formentera auftrat. Es war die Zeit, als die Haare länger wurden und der Weg nach Indien sich auf einen Zug Marihuana verkürzte. Vollmondfeste an den Stränden, Schlafsäcke in den Dünen, die Mütter bangten um die Moral ihrer Töchter, die Bauern um ihre Weingärten.




Es war die Zeit, als die Haare länger wurden und der Weg nach Indien sich auf einen Zug Marihuana verkürzte. Vollmondfeste an den Stränden, Schlafsäcke in den Dünen, die Mütter bangten um die Moral ihrer Töchter, die Bauern um ihre Weingärten.

Die
Guardia Civil tauchte auf. Und hätten einige der Einheimischen, unter ihnen vor allem ein Señor Tur Cardona, besser bekannt als Pepe de sa Fonda, nicht ein gutes Wort für die Blumenkinder eingelegt - wer weiß.

So aber wurde die
Fonda Pepe zum Treffpunkt der Tramper und Unangepassten, ihr Ruf drang bis New York und London. Die britische Gruppe Pink Floyd kam und ließ sich zu der Filmmusik von More inspirieren, und Peter Sinfield von King Crimson besang 1971 auf dem Album Islands die Formentera Lady. Ja, davon erzählt man sich heute noch.

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Teil 7: Eric Clapton in der Stierkampfarena


Verdammt lange her, stimmt. Doch so ist das eben. Die weiten
Sandstrände und die Karibikfarben des Wassers prägen
das äußere Erscheinungsbild der kleinen Pityuseninsel. Beim
inneren Bild, dem in den Köpfen der Besucher, wirkt noch immer
die Invasion der Blumenkinder nach.

Ende der siebziger Jahre war die Hippiezeit vorbei. Na ja,
fast. Auf dem größeren und grelleren Ibiza spielten Bob Marley
und Eric Clapton in der Stierkampfarena vor noch einmal verwegen
herausgeputztem Publikum. Doch der Traum, die Welt
durch Gitarrenmusik, Flower-Power und ein friedliches Pfeifchen
Gras verändern zu können, war damals schon ausgeträumt.
Den sanften Rebellen folgten die Pauschaltouristen,
das Leben auf Formentera wurde normaler und teurer.

Die durchtanzten Nächte gehörten bald zur Legende, ebenso
wie Typen, die mit einem Schwein an der Leine spazieren
gingen. Die Freaks, wie sie sich selbst nannten, waren in ihre
Heimat zurückgekehrt oder nach Indien weitergezogen. Was
ist von dieser Epoche geblieben?

Auf der Hochebene La Mola der sogenannte Hippiemarkt,
in Sant Ferran ein paar Gemälde in der Fonda Pepe und bei
einigen inzwischen ergrauten Residenten die Erinnerung an
eine wilde Zeit. Spuren hatten die Tage der Blumenkinder auch
in der Finca Can Marroig bei Porto Saler hinterlassen.

Doch zu sehen ist nichts mehr davon. Formenteras größter Bauernhof - einst von Mönchen bewirtschaftet, dann Unterschlupf und Treffpunkt von Tagträumern und freien Geistern - wird derzeit restauriert und zu einem Informationszentrum über Sturmtaucher umgebaut.

Die psychedelischen Zeichnungen an den Wänden und eine aus alten Autofenstern gebaute Glaskuppel fielen den Aufräumarbeiten zum Opfer. Die Hippies, die viele Jahre in dem Gebäude gelebt hatten, waren schon lange weg.

Nach ihnen tauchten damals neue Leute auf. Aussteiger, die es in der Heimat schon zu etwas gebracht hatten und nun Sonne, Meer und ein freieres Leben suchten. Zunächst fanden sie jedoch nur Schwierigkeiten.

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Teil 8: Die Insel in Gold und Silber

Spanien war noch nicht in der Europäischen Gemeinschaft. Eine Aufenthaltsgenehmigung war daher nur schwer zu kriegen, Arbeit so gut wie gar nicht. Ideen waren gefragt. Wie sie etwa Dieter "Atze" Gölsdorf und zwei weitere deutsche Formentera-Fans hatten, die eine Werkstatt eröffneten, in der Urlauber ihre eigene E-Gitarre bauen können.

Oder Brigitte, die zunächst Blusen einfärbte und bemalte, später Kleider, Hosen und Röcke entwarf, die von einheimischen Frauen genäht und in zwei, drei Boutiquen auf der Insel sowie in Deutschland verkauft wurden. Reich wurden diese und andere Aussteiger nicht dabei, aber sie genossen das Leben auf der Insel und fühlten sich ihren Landsleuten, die nur als Touristen kamen, ein wenig überlegen.

Na gut, Hippies war gestern, Aussteiger auch. Was ist heute? Denn nach wie vor übt die Insel eine magnetische Anziehungskraft aus, auf Künstler, Charakterkäuze und Individualisten. Ich mache mich auf die Suche. Es ist später Nachmittag. In der Fonda Pepe oder draußen auf dem sogenannten Philosophenmäuerchen finde ich sie nicht.

Weiter zum Piratabus, dem legendären Treff an der Platja Arenals. Schon von Weitem sehe ich schwere Geländewagen und dicke Motorräder und zu hören ist, wie jeden Tag zum Sonnenuntergang
Time To Say Goodbye ...



O je, bin schon weg. Am späten Abend dann im Hafen La Savina. Ich schlendere an den Verkaufsständen entlang, sehe Kettchen, Schmuck und bunte Tücher, gefertigt auf Bali. Was kommt von Formentera?

"Hier", sagt der Verkäufer und weist auf mit Sand gefüllte Eidechsen und kleine Inselchen in Gold und Silber, "die Dinger hier laufen seit Jahren wie … wie … na, wie die Autoaufkleber von Sylt", erklärt er. Der Mann hat Tatoos am Oberarm, einen Knopf in der Nase, Schmuckstecker hier und da wie … wie … na, eben wie die Verkäufer in der Fußgängerzone von Recklinghausen. Was hatte ich erwartet? Nichts.

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Teil 9: Die Einsamkeit des Leuchtturmwärters


Formentera ist eben auf dem Weg, ein ganz normales Reiseziel zu werden. Keine Schande. Kein Grund zum Jammern. Letzter Versuch: Hippiemarkt in El Pilar auf der Mola. Da wird getrommelt, da wird "echt und eigenständig Selbstgemachtes" verkauft, da sind Hunderte Touristen, die ihre Fotohandys auf Figuren in Hippietracht richten.

Doch ja, ein paar authentische Typen sind auch darunter, Erik mit seiner Gitarre, der Straßenmaler Firefox, der sich bunte Federn an den Hut und Stöpsel in die Ohren gesteckt hat. Er will nichts hören, und verkaufen will er seine Bilder auch nur dann, wenn "mir keener krumme kommt, nee wa". Firefox kommt aus Berlin und heißt Jürgen Schulz.

Was für ein Gegensatz zu Alfonso Biescas Vignau! Der Baske, gleich nebenan, malt hübsche Miniaquarelle, jeden Tag genau vierzig Stück. Er akzeptiert Kreditkarten, und neben seinen Bildchen liegt das Funktelefon. Formenteras Künstler haben sich gewandelt, die ganze Insel hat sich geändert.

Doch nach wie vor, wie schon seit hundertfünfzig Jahren, steht am Rande der Mola ein alter Leuchtturm. Drinnen wohnte bis vor kurzem Javier Pérez de Arévalo, Formenteras letzter Leuchtturmwärter. Vormittags erfüllte er seine Pflicht als Wärter des Lichts, nachmittags komponierte der Mann aus Burgos zeitgenössische Musik. Entstanden ist hier, am Ende der Insel, das Werk
Soledad, das vor einiger Zeit in Berlin uraufgeführt wurde. Soledad – Einsamkeit?

Moment mal, stimmt das denn überhaupt noch?




»Vielleicht im Winter, die Sommer sind wirklich laut geworden«, war seine Antwort, und kurz danach verließ er die Insel.

Von Javiers ehemaligem Arbeitsplatz, hoch oben im Turm, schweift der Blick über das tiefblaue Meer und die ockerfarbenen Felder, über eine Windmühle in der Ferne und einen Gedenkstein nahe der Steilküste.

Die Bronzetafel an dem Stein ist Jules Verne gewidmet, dessen utopischer Roman
Reise durch das Sonnensystem zum Teil auf Formentera spielt ...


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Teil 10: Von Nesträubern und dem Titanic-Kamin


In einer uralten Finca, einen Steinwurf vom Leuchtturm entfernt, wohnt Juan Torres Mayans. Er ist der letzte Müller der Insel. Bis 1964 hat er das Korn in der zweihundert Jahre alten Windmühle gemahlen, die heute, von ihm restauriert, eine Touristenattraktion ist.

Juan erzählt von den alten Zeiten, als die jungen Männer mehr aus Abenteuerlust denn aus Hunger an der Steilküste die Nester der Sturmtaucher ausräuberten. Die Vögel wehrten sich mit Schnabelhieben, und oft blieb dem Nesträuber, der mit einer Hand an einem Seil hing, nur die Möglichkeit, seine Beute mit einem Biss zu töten. Geschichten von gestern. Ob die alte Zeit auch die bessere Zeit gewesen sei? Da muss Don Juan lachen. Diese Fremden stellen wirklich die seltsamsten Fragen.

Ja, die Fremden; ginge es nach deren Willen, nichts dürfte sich ändern. Die Altresidenten sind die unerbittlichsten Kritiker. Mit Ausdauer schwärmen sie von den vergangenen Tagen und verdammen jede Veränderung.

"Die neue Estación Marítima, hör mal, findest du die etwa gut? Die blauen Säulen, die Stahlstreben, diese künstlich auf alt getrimmte Eisenverkleidung, lächerlich!" Der Mann hat nicht ganz unrecht; das neue Hafengebäude ist vielleicht ein wenig groß geraten, im Großen und Ganzen aber recht gut gelungen.

"Gelungen?", hakt er ein. "Es soll wohl an einen Schiffsbug erinnern mit der Cafeteria im Oberdeck. Der abgesägte Titanic-Kamin wirkt aber wie ein erhobener Mittelfinger, und zwar in Richtung Ibiza, weil die dort im Hafen nur einen kleinen Flachbau haben."


Der Mann läuft jetzt zur Hochform auf, nimmt sich auch gleich das Krankenhaus vor, das sich erst noch im Bau befindet. "Riesending. Spezialabteilungen. Aber pass mal auf, die werden überhaupt keine Ärzte finden, die da arbeiten wollen."

Vielleicht doch, werfe ich ein, werde aber gleich unterbrochen. "Mir doch egal; ich gehe, wenn ich krank werde, sowieso in eine deutsche Klinik."


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Teil 11: Nach dem Urlaub einfach bleiben


Andere Residenten wollen nie mehr zurück in die alte Heimat, weder gesund noch krank. Und für den Fall der Fälle haben sie sich auf dem Friedhof von Sant Francesc schon ein Plätzchen reserviert. Warum?

Nun, Robert Baldon liegt dort, den alle nur Bob nannten; jener Amerikaner, der 1967 nach Formentera kam, in Sant Ferran die
Biblioteca Internacional gründete und 1997, als er starb, eine Sammlung von zwanzigtausend Bänden in einem Dutzend Sprachen hinterließ.

Nicht weit von seinem Grab, das ein aufgeschlagenes Buch ziert, ruhen der halbverrückte Kriegsfotograf James con hielo, dessen richtigen Namen niemand kannte, die Galeristin der ersten Stunde Susa Ackermann und viele mehr, die eines Tages auf die Insel kamen, vielleicht nur für einen Urlaub, und einfach blieben.

Ich kenne einen Mann, der die halbe Welt bereist hat. Doch seit er auf Formentera lebt, überlegt er sich jeden Schritt. Die Frage, ob er zum Bäcker in Sant Ferran geht oder doch lieber in Sant Francesc das Brot kauft, wird bei ihm zur wichtigsten Entscheidung des Tages. Landschaften prägen ihre Bewohner, Inseln ganz besonders.

Alles Böse kam stets von außen, das macht argwöhnisch. Andererseits sind Insulaner zu Touristen in der Regel freundlicher als zu den Hinzugezogenen, weil die Fremden schließlich nach kurzer Zeit wieder weggehen.



Auch die Residenten freuen sich auf die Besucher, weil man
denen ja noch etwas erzählen kann. Unter den Insel-
nachbarn genügt, da alles schon gesagt worden ist, meist ein
"Hola, ¿qué tal?"

»Hallo«, sagte einmal ein Nachbar zu mir, den ich lange Zeit
aus den Augen verloren hatte. »Wie geht’s?«, fragte er und
führte dann, ohne eine Antwort abzuwarten, ein vor Monaten unterbrochenes Gespräch so fort, als läge dazwischen nur ein Atemzug. »Die Jäger mit ihren Hunden laufen einfach über
mein Grundstück …«

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Teil 12: Keimzelle der Formentera-Begeisterung


Soziale Kälte unter heißer Sonne? Humbug! Genau wie der
Satz von der großen Inselfamilie. Was stimmt, ist, dass sich die
Insulaner, Einheimische wie Hinzugezogene, bis Ende der siebziger
Jahre um den Heizofen in der Fonda Pepe versammelten.

Und weil Menschen nicht einfach über Stunden sitzen
können, ohne etwas zu tun, fingen sie an zu stricken, spielten
Schach, machten Musik, warfen sich gute Blicke zu oder böse,
zankten und tranken. Trinken taten sie am meisten.

In den Fincas mit den meterdicken Mauern war es kalt und feucht.
Die Kamine hatten die Bauern zum Kochen, aber nicht zum
Heizen gebaut. Und wer, um der Kälte zu entfliehen, sich schon
mal aufs Fahrrad oder Mofa geschwungen und in der Fonda
einen Platz gefunden hatte – der blieb dort auch eine Weile.

Anfang der achtziger Jahre war es dann mit der Winterszene
vorbei. Nicht die Menschen hatten sich verändert. Es
lag an der Solartechnik und an den verbesserten Öfen. Die
alten Gasheizungen hatten das Wasser an den Finca-Wänden
herunterlaufen lassen.

Nun, mit einer warmen Bude und Strom, konnte man zu
Hause bleiben und lesen oder gar fernsehen.

In der Fonda saßen fortan nur noch Fremde, die von der
»Keimzelle der Formentera-Begeisterung« gehört hatten,
und auch Leute, die grundlos tranken.

Mittelpunkt für die Einheimischen sind nach wie vor die
drei Kirchen. Hier feiern sie ihre Patronatsfeste mit Prozessionen
und einer Musik, die den arabischen Einfluss verrät. Die nach
überliefertem Rezept gebackenen Krapfen
buñuelos
gehören dazu, der von einer Trommel begleitete Rundgesang
sa cantada sowie ein Feuerwerk um Mitternacht.

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Teil 13: Das Verschwinden der Alltagstracht


Höhepunkt jeder Fiesta jedoch ist der traditionelle Tanz
ball pagès, bei dem Tamburin, Flöte und große Kastagnetten
zum Einsatz kommen. Und natürlich die Festtagstrachten.
Die Frauen tragen lange, gebauschte Röcke, dazu ein
Schultertuch und den
emprendades genannten Goldschmuck;
die Männer, in weißen Hosen, schwarzen Westen und
langen Mützen, die einem etwas schlappen Hahnenkamm
ähneln, zeigen gewagte Sprünge.

Auch wenn aus Bauern, Fischern und Seeleuten längst
Hotelbesitzer, Bauunternehmer oder Taxifahrer geworden
sind, ihr Brauchtum pflegen die Formenterenser,
zumindest an den Festtagen.

Nahezu verschwunden ist hingegen die Alltagstracht. Zum
typischen Inselbild früherer Tage gehörten die älteren
Frauen, die wie festgewachsen am Feldrand hockten und,
bekleidet mit dunklen Röcken und einem Strohhut, Schafe
hüteten oder Wolle spindelten. So war das bis in die neunziger
Jahre. Dies ist jedoch vorbei.

Derzeit geben – was die Mode betrifft, aber nicht nur dort –
die jungen Italiener den Ton an, zumindest in den Sommer-
monaten.

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Und das nun bereits seit einigen Jahren. Sie machen
Restaurants mit italienischer Küche auf, verwandeln urige
Strandbuden in schicke Strandcafés.

Wo es früher
arroz marinero gab, wird jetzt
Champagner-Sangría ausgeschenkt. Die Mädchen sind
durchweg hübsch, die jungen Männer geben
sich figurbetont und selbstbewusst. Nicht allen gefällt das.



>> weiter zu Teil 14 bis 17 im Archiv 2

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Aktualisiert am 1. Dezember | kontakt@niklaus-schmid.de

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