Niklaus Schmid


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Serie: Vom Rhein nach Formentera


Les Bailly, rheinischer Junge internationaler Herkunft, hat eines Tages von seiner Umgebung die Nase voll. Er zieht mit Mundharmonika, Lederhose und drei Mark zehn in der Tasche auf der Landstraße nach Süden. Ziel ist die Insel seiner Träume: Formentera. Sein Tagebuch schildert keine unglaublichen Abenteuer mit Millionärstöchtern in weißen Cabrios, sondern kleine Episoden, ehrlich und schlicht.

< zum Auftakt Damals ...

Teil 1: Mit 3 Mark 10 auf dem Weg nach Süden


Es ist Sonntag, 14. Juli 1974. Ich habe meiner Heimatstadt Düsseldorf den Rücken gekehrt. Ich musste einfach neu beginnen. Eigentlich hatte es mir zu Hause ganz gut gefallen. Aber da passierte die Sache mit der letzten Arbeitsstelle und der Kneipenwirtin.

Man hatte mich nach einem Arbeitsunfall rausgeschmissen. Vierzehn Tage saß ich auf der Straße ohne Geld. In der Stammkneipe gestattete mir die Wirtsfrau, hin und wieder einen Deckel liegen zu lassen. Jetzt, nachdem ich eine neue Stelle in einer Elektrofirma hatte, wollte sie ihr Geld, und zwar sofort. Aber das ging nicht. Die erste Löhnung bekam ich ja erst nach sechs Wochen.

Eines Morgens war mein Moped weg. Im Briefkasten fand ich einen Zettel: "Ich behalte Dein Mofa, bis Deine Schulden bezahlt sind". Also, da hatten wir's! Ich brauchte mein Mofa, um zur Arbeit zu fahren. Aber es kam noch besser. Als ich am Abend nach Hause kam, war mein Zimmer aufgebrochen. Die Tür lag auf dem Boden, der Türrahmen hing über dem Tisch. Ein wüstes Durcheinander. Ich hätte heulen können.

Nach zwanzig Minuten erschien die Polizei, untersuchte alles, stellte Fragen, nahm Fingerabdrücke. Als die Beamten abfuhren, kam die Vermieterin zu mir und sagte seelenruhig, der Manni hätte bei mir eingebrochen, weil ich ihm angeblich mal 50 und mal 20 Mark geklaut hätte. Eine solche Unterstellung war doch wohl der dickste Hund. In der Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich habe viel nachgedacht und geflucht wegen der Anschuldigungen, und als es hell wurde, fasste ich den Entschluss: Hier bleibst du nicht!

Ich stand auf und packte meine Sachen. Ein Hemd, zwei Paar Strümpfe, Seife, Handtuch, Rasierapparat und eine warme Decke für die Nacht. Auch feste Schuhe zum Laufen und natürlich meine Lederhose, denn was Praktischeres gibt es beim Wandern nicht. So stand ich also am 14. Juli auf der Autobahn in Richtung Süden. Plötzlich kriegte ich Bedenken. Ich hatte nur 3 Mark und zehn Pfennige in der Tasche ...


("Insel Zeitung" vom Juli 1980, aus Leslie Baillys Tagebuch, aufgeschrieben von Niklaus Schmid)








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Teil 2: An der Autobahn früh um halb neun


Ein VW brachte mich bis kurz vor Rastatt. Langsam wurde es dunkel. Ich musste mir einen Platz zum Schlafen suchen. Geld für ein Hotel hatte ich nicht. Also legte ich mich unter einen Busch im Wald. Mist! Jetzt fing es auch noch an zu regnen.

Aber am anderen Morgen schien die Sonne. Ich trabte quer übers Feld zur Autobahn. Über eine Stunde wartete ich. Kein Auto hielt. Aha, da bremste doch einer. Zu spät merkte ich, dass es ein Polizeiwagen war. Der Tag fing ja gut an. Ausweiskontrolle, Rückfrage über Funk. Schließlich die Ermahnung der Beamten: "Anhalter, das geht hier nicht an der Autobahn. Da unten ist die Bundesstraße. Gute Fahrt!"

Es war noch früh. Die Kirchglocken läuteten. Aus einem Bäckerladen roch es nach frischem Brot. Seit zwei Tagen hatte ich nichts gegessen. Ich kaufte mir zwei trockene Brötchen. Ich dachte an das Mädchen in der Firma, das für die Jungs in der Werkstatt Kaffee kochte, und wie gut es dann immer duftete. Dann fielen mir die Kollegen ein, die jetzt zur Arbeit gingen. Und auf einmal fand ich die Welt wieder ganz in Ordnung.

In Straßburg, wo ein Freund aus der Bundeswehrzeit wohnte, machte ich Station. Es war herrlich mal wieder in einem weichen Bett zu schlafen. Jean-Pierre brachte mich mit seinem Motorrad zum Ortsausgang. Er war verheiratet, hatte einen Sohn, und ich stand mutterseelenallein an der Autobahn. War das eigentlich richtig, was ich machte?

Neben mir hielt ein Lastwagen, riss mich aus meinen Gedanken. Wieder ging es meinem Ziel, Formentera, ein Stück entgegen. In Lyon gesellten sich zwei Deutsche mit Rücksäcken zu mir. Wir übernachteten unter einer Brücke und wollten gemeinsam weitertrampen. Doch am anderen Morgen gab es ein böses Erwachen.











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Teil 3: In kurzen Hosen wie ein Schuljunge


Ich blinzelte ins Sonnenlicht, rieb mir die Augen, es blieb dabei: Unser Gepäck war weg. Man hatte uns, während wir unter der Brücke schliefen, die Rucksäcke gestohlen. Wir besaßen nur noch die Klamotten am Leib; und die waren noch klamm vom Regen des Vortags. Die Polizeistelle lag nicht weit entfernt.

Aber so schnell wir drin waren, waren wir auch wieder draußen. Man konnte uns nicht helfen. Wir sollten uns ans deutsche Konsulat wenden. Die Adresse suchten wir aus einem Telefonbuch heraus. Avenue Prado. In Marseille. Das waren einige Kilometerchen. Endlich, nach zwei Tagen Trampen, standen wir, reichlich verstaubt und mit knurrendem Magen, vor der Tür des Konsulats. Klaus und Ewald in Jeans, ich in kurzen Hosen, wie ein Schuljunge.

Die Tür war verschlossen. Daran ein kleines Schildchen: Dienstzeit von Montag bis Freitag. Heute war Samstag. Es wurde ein kaltes Wochenende am Strand.
Am Montag, ganz früh, erzählten wir dem Konsulatsbeamten unsere Geschichte. Klaus war's leid, ließ sich eine Fahrkarte nach Deutschland ausstellen. Ewald wollte weitermachen, und ich sowieso. Man riet uns, Geld aus Deutschland anzufordern. Tatsächlich gelang es uns nach vielem Hin- und Hertelefonieren, 300 Mark lockerzumachen.

Alle paar Stunden fragten wir nach der Postanweisung. Nichts. Wieder nichts. Wir verließen kaum noch den Schalterraum. Der Postbeamte, ein feiner Kerl, schenkte uns schließlich 10 Franc, damit wir uns wenigstens Brot kaufen konnten.
Postanweisungen sollen ja blitzschnell gehen. Was soll ich sagen, es dauerte drei Tage. Dann hatten wir die 564 Franc in den Händen. Wir fühlten uns wie Könige. Der Postmann kriegte sein Geld zurück, für seine Frau hing noch ein Strauß Blumen drin, wir genehmigten uns ein kühles Bier, und für Ewald kauften wir neue Gitarrensaiten.

Zufrieden saßen wir auf der Mauer am alten Hafen und spielten und sangen "Im Frühtau zu Berge" und "Wo die Nordseewellen rauschen". Ein Lied jagte das nächste. Bei "Rolling Home" versammelten sich die Spaziergänger um uns. Und plötzlich klimperten Münzen im Deckel meiner Mundharmonika.

Es war zum Piepen. Tagelang hatten wir von Wasser und Brot gelebt, und jetzt, nachdem wir die Überweisung in der Tasche hatten, warfen uns die Leute das Geld sogar nach. Wir brauchten nur zu spielen und zu singen. Warum waren wir Heinis nicht früher draufgekommen?






















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Teil 4: Ist noch Bier da?


Ewalds Urlaub war zu Ende; ich trampte wieder allein. Ein Ehepaar mit einem etwa dreizehn Jahre alten Sohn, der Axel hieß, nahm mich mit. Ich erzählte ihnen, dass ich auf dem Weg nach Formentera sei.

Wir fuhren nach Sète. Ich ging am Strand spazieren. Eine Stimme hinter mir fragte: "Darf ich?" Ich drehte mich um und sah Axel lässig mit einer Schachtel HB winken. Ich hatte auch mit dreizehn angefangen zu rauchen - und ordentlich Prügel gekriegt.

Nach zehn Minuten fragte Axel wieder: "Darf ich?" Und schon sprang er ins Wasser, seine kurze Lederhose, so eine, wie ich sie trug, ließ er an. "Die braucht jetzt drei Tage, bis sie trocken ist", erklärte ich.

"Denkste", sagte Axel, "die ist gar nicht erst nass geworden." Er verriet mir den Trick mit dem Lederfett. Er selbst war darauf gekommen, weil er auf seinem Schulweg einen Bach überqueren musste. Da die Brücke ziemlich weit entfernt war, nahm er lieber die Abkürzung durchs brusthohe Wasser. Ein pfiffiges Bürschchen!

Am Abend fragte Axel wieder: "Darf ich mit Les nach Barcelona trampen?" Ich war baff und noch viel erstaunter, als seine Eltern tatsächlich die Erlaubnis gaben. Wir machten aus, uns in genau einer Woche an der Santa Maria des Kolumbus zu treffen. Axel fing an, seine Sachen in den Rucksack zu stopfen.

Mein neuer Reisegefährte war sehr jung, aber ein ganzer Kerl. Das zeigte sich auch, als wir mit den Jungs aus Geldern, die uns über die spanische Grenze mitgenommen hatten, am Lagerfeuer hockten und gemütlich einen Kasten Bier leerten. Axel half kräftig mit. Dann verschwand er auf einmal.

Wir fanden ihn im Waschraum des Campingplatzes. "Ist doch klasse, meine Alten sind nicht da, endlich kann ich mal in Ruhe duschen." Eine Stunde lang hatte er singend unter der Dusche gestanden. Natürlich mit Schuhen, Hemd und Lederhose.

Es machte Spaß, mit Axel zu trampen. Der hatte so eine Art, an der richtigen Stelle seinen Mund aufzumachen: "Haste mal 'ne Zigarette? Ist noch Bier da?" Nach einer Woche trafen wir wie verabredet seine Eltern im Hafen von Barcelona. Von hier aus wollte ich mit der Fähre den Sprung nach Ibiza machen. Schon morgen. Doch es kam anders.














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Teil 5: Kartentrick mit dickem Seesack


Mit meinen zusammengekratzten tausend Peseten stellte ich mich in die Schlange am Kartenschalter. Vier Reihen vor mir fiel die Klappe zu. Das Schiff war voll. Am nächsten Morgen stehe ich schon vor Sonnenaufgang in der Reihe. Trotzdem sind noch fünfzig Leute vor mir. Wieder nichts. Es ist Hauptsaison. Tagsüber streife ich über die Ramblas. Abends beziehe ich meinen Posten im Hafen.

Trotz sparsamster Lebensweise - nur ein Bocadillo pro Tag - habe ich nach einer Woche nur noch hundertdreißig Peseten in der Tasche. Jetzt reicht das Geld nicht mal mehr für die Fähre nach Ibiza. Aber inzwischen habe ich erfahren, dass es in der Vía Layetana eine Agentur gibt, die montags ein paar günstige Tickets verkauft. Diese Information will ich mir zu Nutzen machen.

Ich spreche mit zwei Jungen aus Deutschland, die ebenfalls keine Karten ergattern konnten. "Man muss es mit einem Trick versuchen", erkläre ich. Die beiden sind von meinem Plan begeistert und versprechen, wenn es klappt, eine Karte für mich zu kaufen.

Um neun Uhr abends legen wir uns vor den Eingang der Agentur. Wir sind die Einzigen. Gegen Mitternacht lagern schon rund sechzig Typen in Schlafsäcken um uns herum. Um sechs Uhr früh sind es zweihundert. Wir müssen unbedingt als Erste rein. Um acht Uhr wird die Tür geöffnet. Ich stehe ganz vorne. Sofort drückt die Bande hinter uns, will mich zur Seite schieben.

Da lasse ich vor dem Eingang den schweren Seesack fallen. Die Drängelnden stürzen über das Hindernis, meine beiden Partner hechten über das Knäuel und sind als Erste am Schalter. Sie lösen drei Schiffskarten. Eine davon ist für mich.

Mit dem geschenkten 100-Peseten-Schein bezahle ich am anderen Tag die Überfahrt von Ibiza nach Formentera. Im Hafen La Savina zähle ich mein Vermögen. Sieben Peseten. Nicht viel, doch irgendwie, das habe ich in den Wochen auf der Landstraße gelernt, werde ich mich auf meiner Trauminsel schon durchschlagen.

Das war 1974.
Heute, es ist Juli 1980, bin ich noch immer hier.

- Ende -

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Aktualisiert am 1. Dezember | kontakt@niklaus-schmid.de

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