Niklaus Schmid


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Leseproben

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aus:
Der Hundeknochen


Der Wagen verließ die Asphaltstraße. Wir holperten über einen Waldweg, und mir fiel ein, was Karla vom spanischen Bürgerkrieg erzählt hatte: Am meisten Angst hatten die Leute davor, nachts von Unbekannten zu einem paseo, einem Spaziergang, abgeholt zu werden – weil es für viele dann der letzte ihres Lebens wurde.

Der Wagen hielt.

„Sie machen gern Fotos?“
„Wie jeder Tourist.“

Eine Hand griff in meinen Nacken, riss meinen Kopf nach hinten, gleichzeitig schlug mir der Mann auf dem Beifahrersitz mit dem Handrücken ins Gesicht.

„Aber Sie machen besonders gern welche von Baustellen in Naturschutzgebieten. Das trifft sich gut, wir sind hier in einem Naturschutzgebiet. Sie können aussteigen. Gute Nacht – und schöne Grüße von Maikel.“

Ich öffnete die Tür. Ich roch die salzhaltige Luft, hörte entferntes Grollen. Wir waren ganz dicht am Meer. Irgendwo hinter den Büschen, die ich schemenhaft ausmachte, ging es hundert Meter steil abwärts. Ich steckte in der Falle.

Als ich meine Füße auf den Erdboden setzte, vernahm ich hinter mir ein metallisches Klicken; eine Waffe wurde durchgeladen und entsichert. Ich rannte los, in die dunkle Nacht hinein, darauf gefasst, jeden Augenblick den Einschlag einer Kugel zu spüren.

Und dann kam der Schuss.

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aus:
Bienenfresser


Allerlei Strandgut lag herum, obwohl das Meer recht weit entfernt war und sich zudem an einer Steilküste brach. Ein Zaun aus ausrangierten Bettgestellen, leere Flaschen bildeten einen regelrechten Hügel und aus einem Teerfass stieg Rauch empor. Abgemagerte Katzen, die eine riesige Paellapfanne mit Essensresten belagerten, stoben bei meinem Näherkommen auseinander. Nachdem ich mehrmals laut gerufen hatte, öffnete sich die Haustür.
Ein stämmiger Mann in Latzhosen, begleitet von einem Rottweiler, erschien unter dem Vordach der Finca.

„He, da! Sie haben sich verfahren. Hier geht’s zu keinem Strand.“
„Ich suche keinen Strand.“
„Die Tropfsteinhöhle liegt dahinten.“ Er gab mit seiner Hand eine vage Richtung an.
„Ich suche auch keine Tropfsteinhöhle.“
„Was denn?“
„Darf ich wohl ein Stück näher kommen? Oder frisst mich Ihr Hund gleich auf?“
„Der tut nur, was ich sage.“

Mir war nicht klar, ob mich das beruhigen sollte oder ob das als Warnung zu verstehen war. Ich näherte mich den beiden, vermied aber den Blickkontakt mit dem Hund und ließ ihn schließlich an meiner herunterhängenden Hand schnuppern.

„Prüfung bestanden. Setzen Sie sich." Der Mann deutete auf einen der Eisenstühle, von denen ein Dutzend auf dem Hof stand, nahm selber aber in einem Autositz Platz. „Also, was wollen Sie?“
Ich erklärte ihm, dass ich ein Mädchen mit Namen Dora oder Donata suchte.

„Wir suchen ja alle was: Sie ein Mädchen, ich den richtigen Anfangssatz für einen Roman.“
„Wie wär’s mit: 'Ilsebill salzte nach'?“
„Ach, Günter Grass!“ Er zog die Nase hoch. „Nach Katz und Maus ist ihm nichts mehr richtig gelungen.“
„Der Butt?“
„Zu viel Ballast. Großer Zeigefinger, er wollte perfekt sein. Kommen Sie."

Er führte mich hinters Haus zu einer Mercedes-Limousine, die auf vier Hohlblocksteinen stand, öffnete die Heckhaube und entnahm dem Kofferraum eine vorsintflutliche Schreibmaschine. „Walter Benjamin soll darauf geschrieben haben“, sagte er.
„Was zu hohem Anspruch verpflichtet.“
„Leider komme ich kaum zum Schreiben. Die Finca frisst mich auf.“
(...)

Die Ratte kroch an meinem Hosenbein hoch.
Der Dünne sah, wie sie sich unter dem Stoff bewegte, blickte auf seine Armbanduhr und fragte: „Worum wetten wir, Gerry?“
„Einen Hunderter“, antwortete Latzhose, dreht sich zu mir und sagte, während er wieder beruhigend seinen Hund streichelte: „Und mit Ihnen wette ich, dass Sie ab heute einen großen Bogen um diese Finca machen – spätestens dann, wenn Ihnen die Ratte die Geschlechtsorgane angebissen hat.“

Die Ratte näherte sich bereits meiner Leistengegend.

„Und bis dahin können wir uns noch über einen guten Einstieg zu einer Geschichte unterhalten. Wie wär’s mit: Professor Bingos Schnupfpulver, eine der etwas weniger bekannten Storys von Raymond Chandler, und die beginnt so: Um zehn Uhr morgens schon Tanzmusik.’“

Er sah mich erwartungsvoll an. „Das hat Schwung, nicht wahr, ist flott und lebhaft. Im Gegensatz zu unserer lahmen Freundin hier.“

Seine Hand näherte sich meinem Schoß, mit ausgestrecktem Finger stieß er kräftig gegen die Ratte, die auch sofort reagierte, indem sie sich ein paar Mal um die eigene Achse drehte und dann zubiss.

aus:
Stelzvogel und Salzleiche (Die Klette)


Mit drei, vier Schritten hatte ich den Weg vom Computer zum Flur zurückgelegt. An die Wand gepresst, griff ich zum Stiefelschaft, wo ich das Messer mit einem Klettverschluss befestigt hatte. Als ich aus der gebeugten Haltung wieder hochkam, spürte ich einen stechenden Schmerz, der mir den Kopf zu sprengen drohte. Ich riss die Hände vor die Augen, dann kam ein neuer Schmerz, den ich gar nicht mehr zuordnen konnte, und dann fiel ich ins Bodenlose.

Ich lag auf einer Bahre, Sanitäter schoben mich durch Pendeltüren, klack, klack, Karbolgeruch – ich war auf dem Weg in einen Operationssaal. Es konnte aber auch eine Klapsmühle sein, denn mein Oberkörper steckte in einer Zwangsjacke. Jedenfalls glaubte ich das, bis ich spürte, dass meine Arme gar nicht eng am Brustkorb anlagen, sondern weit ausgestreckt an eine Eisenstange gefesselt waren.

Meine Zunge fühlte sich pelzig an, meine Augen brannten. Ich öffnete sie einen winzigen Spalt, ein Schmerz durchzuckte mich und durch den Tränenschleier vor meinen Augen sah ich eine Gestalt, die ich erst beim zweiten Blinzeln als Irene Gorgas identifizierte, weil sie so verändert aussah. Das biedere Hausmütterchen hatte sich in eine Domina verwandelt. Sie trug eine Aufmachung aus Leder sowie jene Augenmaske, die ich schon von dem Video kannte, ihre Füße steckten in bizarrem Schuhwerk. Mit Stiefeletten von derartiger Größe und ähnlichem Aussehen hatte ich Transsexuelle durch Ibizas Altstadtgassen stöckeln sehen.

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aus:
Die Wettreise


Ja, die Fantasie ist nun mal besser als die Wirklichkeit – auch beim Reisen, das ist mir bei dieser Tour so richtig klar geworden. Namen wie Daressalam und Bagamayo, wie ließen die meine Haut prickeln! Ich brauchte nur die Augen zu schließen, dann hörte ich das Tamtam der Buschtrommeln und Vogelkreischen, sah Schmetterlinge wie aufgeschlagene Zeitungen durch die Luft gaukeln und Leoparden durch das Unterholz streifen.
Timbuktu, Niamey: Nie dachte ich bei diesen Namen an weggeworfene Cola-Dosen, an Hütten aus Autowrackteilen, an Transistorradios, die westliche Schlager plärren. Heute, nachdem ich dort gewesen bin, fällt es mir schwer, nicht daran zu denken.
Die Globetrotter reisen ihren Träumen nach; sie finden die Wirklichkeit, sind enttäuscht und jagen weiter. Was sie zu Hause erzählen, ist schon verfälscht.

aus dem Vorwort zu:
Formentera – Das Insellesebuch
der etwas andere Reiseführer


Zugegeben, mir kommt zugute, dass ich schon seit vielen Jahren auf der Insel lebe. Und dass ich miterleben konnte, wie sich Formentera in den letzten Jahrzehnten verändert hat: Von der Insel der Einsamkeitssucher, dem Fluchtpunkt der Blumenkinder, ist sie den Weg zu einem pauschal angebotenen, aber immer noch besonderen Reiseziel gegangen.
Formentera hat sich zwar verändert, denn die Insel lebt, doch einiges blieb unverändert. Dass die Insel ihren Charme bewahrt hat, erfahren Besucher am besten außerhalb der Hauptsaison.
Noch dreht sich auf der Hochebene La Mola beim alten Leuchtturm das Lichtrad, klettern verwilderte Ziegen über die Klippen am Cap de Barbaria. Unverändert ist auch der Duft der Insel, diese Mischung aus Pinienduft, Salzwasser und Wildkräutern.
Dies ist also das Porträt einer Insel im Verlauf eines Jahres, das Porträt einer Insel, die ihre Traditionen wahrt, aber Veränderungen nicht ausschließt - das Porträt einer eher kargen Insel, die aber reich an Geschichten und auf dem besten Wege ist, selbst zur Legende zu werden.

Aus dem Monatskapitel März:

Später gibt er mir noch einen guten Tipp, wo ich Kaninchen mit Knoblauch und Schnecken essen soll, und wünscht mir viel Spaß auf der Insel.

Das hatte schon einmal jemand getan, vor mehr als fünfzehn Jahren. Damals hörte ich den Namen Formentera zum ersten Mal. In einem Brief habe ich die Begegnung festgehalten:

Mein Freund!
Da stand ich am Tresen einer Dorfkneipe in Puerto de Mogán auf Gran Canaria und wusste von einer Minute zur anderen, wohin ich wollte. Zwei, drei Sätze eines mir völlig fremden Menschen hatten genügt: „Formentera liegt bei Ibiza, gehört zu den Balearen, ist klein, überschaubar, nichts Spektakuläres, aber ganz groß in Kleinigkeiten. Das Licht dort zum Beispiel, grell, gnadenlos, aber es bringt die Gedanken zum Tanzen.

Und dann die Leute: Maler, Schelme, Lebenskünstler, Spaßvögel, eine Menge Sonderlinge, die irgendwann, irgendwo einen Spaziergang auf der wilden Seite des Lebens riskiert haben und jetzt ihren Träumen nachhängen. Die Insel ist so eine Art tintenblauer Tranquilizer. Da ist James, ein närrischer Kriegsfotograf aus Vietnam, da ist der Kartoffel-Hannes aus Köln, und da sind die Einheimischen, die die halbverrückten Ausländer gewähren lassen. Da sind - ach, fahr hin, schnupper mal rein, ich denke, es wird dir gefallen!“

Mein Freund, ich folgte diesem Ratschlag. Jetzt bin ich hier, und, in der Tat, es gefällt mir. Ob auch für längere Zeit – ich werde Dich auf dem Laufenden halten.

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Aktualisiert am 1. Dezember | kontakt@niklaus-schmid.de

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