Niklaus Schmid


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Kurzkrimi Nr. 16

Kurzkrimi Nr. 16


Mord am Hellweg

Railway to hell


Meine Familie, ständig hat sie an mir was auszusetzen. Luigi, deine Weibergeschichten, du bist ein Träumer! Luigi, warum trinkst du so viel? Jetzt ist dein Führerschein weg. Was wirst du machen? Wie willst du ohne patente deinem Beruf nachgehen?
...Na, mit öffentlichen Verkehrsmitteln, sage ich, wie Hunderttausende andere auch.
...Luigi, fehlt nur noch, dass du dir eine blonde Frau nimmst, sagen sie.
...Ja, warum eigentlich nicht, denke ich, während ich wieder in diesem bescheuerten Zug, der Hellwegbahn, sitze und mir durch das Fenster die Landschaft anschaue. Flaches Land, Nieselregen fällt auf Äcker und Weiden und lässt die Industriebrachen noch trostloser aussehen, Windräder in der Ferne.

*

...Dieser Regen, maledetto! Ich vermisse die Sonne, das Grün der Orangen- und Olivenbäume, den Duft der blühenden Macchia. San Luca ist weit.
...Stattdessen Dortmund. Jetzt schon den dritten Tag. Grauer Himmel, graue Häuser, graue Gesichter. Eine Frau mit Einkaufswägelchen, eine andere, die mit einem Hund spricht, ein Mann in bunter Radlerkleidung, Schulkinder, Arbeiter. Der Kerl mit dem Schnauzbart da drüben, der saß gestern schon auf demselben Platz, hält eine Aktentasche auf dem Schoß, wahrscheinlich stecken eine Thermosflasche und eine Butterbrotdose darin. Bestimmt ist er auf dem Weg zu irgendeiner schlecht bezahlten Arbeit, hat einen Stall voller Kinder zu Hause und eine Frau, die auf eine neue Küche spart. Was für ein armseliges Spießerleben!
...„Ausstieg in Fahrtrichtung links“, schnarrt es aus
dem Lautsprecher. Was soll das? Sind die Fahrgäste etwa blind?
...Vorhin stand Signal Iduna Park auf dem Schild, dann Hörde, danach Aplerbeck, immer noch Dortmund. Hört dieser Häuserbrei denn nie auf? Rechts ziehen jetzt Werkshallen mit zerbrochenen Fensterscheiben vorbei, aus bröckelnden Backsteinen wachsen Birkenstämme, Brombeergestrüpp bildet neben den Gleisen dichte Hecken und auf einem Wegweiser steht Bezirksfriedhof. Wie passend, denn wer will in dieser Umgebung schon

leben. Ich möchte hier nicht einmal begraben sein, in diesem Land der toten Seelen.
...
Der Schaffner kommt. Der Mann mit der Aktentasche zeigt ihm einen Ausweis. Er hat ein kariertes Flanellhemd an, trägt Turnschuhe zu einer brauen Cordhose, bunte Socken. Orribile! Mit solchen Menschen auf engstem Raum, in dieser Bahn, während mein BMW, das elegante 6er Coupé, in Dortmund in einem Parkhaus wartet, nachtschwarz wie die Sünde und mit getönten Scheiben, die keine neugierigen Blicke zulassen.
...Ich fische meine Automatenkarte aus dem Sakko.
Der Schaffner glättet sie, beäugt sie, nickt mir zu:
„Gute Fahrt!“
...„Grazie!“, entfährt es mir ungewollt auf Italienisch. Ich habe nicht so gern, wenn man meine Herkunft sogleich einordnen kann.
...Der Schnauzbärtige kommt zu mir herüber, spricht deutsch mit italienischer Betonung: „Auch zur Arbeit?“
...„Sì, ja.“
...„Dann besser Monatskarte oder NRW-Ticket, ist günstiger.“
...Was sonst noch, Stützstrümpfe, Seniorenpass? Ich bin achtundzwanzig, trage Stiefeletten von Fratelli Rossetti, einen Anzug von Brioni und darunter eine vernickelte Walther PPK. Für alle Fälle.

**

...„Wo, was?“
...„Wo arbeiten?“
...„Hier.“ Ich mache eine Handbewegung nach links und rechts. „Ruhrgebiet, Westfalen.“ Das ist nicht mal gelogen. Denn ich bin auf dem Weg zur Arbeit. Ich muss was regeln, hier zwischen Hörde und Unna, zwischen Werl und Soest.
...„Was arbeiten?“
...„Vertreter.“ Auch das stimmt. Ich bin tatsächlich Vertreter. Denn ich vertrete die Interessen meiner Familie. Luigi, sagt sie, bring das in Ordnung, unsere Kunden proben den Aufstand. Obwohl wir ihnen die Einrichtungen bezahlt haben und sie beschützen, zeigen sie sich undankbar. Die einen weigern sich, einen Freund unserer Familie einzustellen, die anderen wollen kein pizzo bezahlen. Hier ist die Liste, präg dir die Namen ein. Fang an mit dieser Küchenschabe in Unna, zwei Monate ist sie in Rückstand, wenn wir nicht eingreifen, geht uns die ganze Region verloren.
...Die Region? Da muss ich lachen. Ein bescheuerter, regennasser Schmutzfleck. Aber er bringt Geld, das zählt. Und er ist, verdammt noch mal, unser territori,
er ist das Herrschaftsgebiet meiner Familie.
...„Aha, Vertreter“, wiederholt mein Gegenüber.
...„Ja“, antworte ich.
...„Landmaschinen?“
...„Nein, bin im Gaststättengewerbe.“ Auch das ist
nicht gelogen. Vorgestern war ich im
Ristorante Costa
.

Azzurra. Ein Lokal der Mittelklasse, aber die Speisen sind fast erstklassig: Mein Carpaccio vom Rinderfilet war garniert mit Rucula und Parmesan, anschließend nahm ich eine kleine Portion Spaghetti Frutti di Mare. Zum Hauptgericht Osso buco – das Fleisch war so zart, dass man es mit dem Messerrücken schneiden konnte – bestellte ich einen kräftigen Maso Le Viane Trentino Rosso; ich trank zwei Gläser und war bis dahin zufrieden.
...Es kam der Espresso und es kam der Besitzer persönlich, ob ich sonst noch etwas wünsche, wollte er wissen. Ja, sagte ich und nannte die Rückstände für drei Monate. Wie? Was? Dabei hielt der Witzbold eine Hand hinter sein rechtes Ohr, als ob er schlecht hören könne. Andiamo, amico!
...Wir gingen dann ins Hinterzimmer. Ich legte meine Walther auf den Schreibtisch, platzierte die Schachtel mit Wattestäbchen daneben, steckte dem Witzbold zwei dieser Reinigungsstäbchen in die Ohren, schlug blitzschnell mit den geöffneten Handflächen zu und sagte, dass ich beim nächsten Mal nicht mehr die Finger meiner Hände spreizen, sondern ihm die verdammten Ohrreiniger ins Hirn schlagen würde. Danach gab es kein Wie, kein Was mehr, stattdessen überreichte er mir beim Hinausgehen die Tageskasse, sozusagen als Anzahlung auf das Schutzgeld, la tangente, oder wie meine Familia es nannte il pizzo. Den Rest, amico, hole ich in einer Woche. Arrivederci!

***

...„Und Sie, was machen Sie?“, frage ich jetzt meinen Gesprächspartner, weil ich gegenüber einem Landsmann, der offensichtlich aus der Unterschicht stammt, nicht dünkelhaft wirken will.
...„Hab einen Job im Flughafen Holzwickede. Gepäckabfertigung.“
...Danach sieht er auch aus. Ich nicke nur, blicke aus dem Fenster, sehe Vorgärten mit kleinen Häuschen, die aussehen, als wären sie für Zwerge gemacht.
...„Schrebergärten“, bemerkt mein Gegenüber; er kehrt den mit der Umgebung Vertrauten heraus. „Sölde. Gleich danach kommt Holzwickede, da muss ich raus, vielleicht sieht man sich wieder. Hier in der Bahn.“
...Er nimmt seine Aktentasche, erhebt sich. Als er den Zug verlassen will, stürmt eine Gruppe Jugendlicher das Abteil. Sie schiebt den Mann, der wild gestikuliert, regelrecht vor sich her, und dann fährt der Zug auch schon wieder an.
...„Na gut, dann eben nächste Station raus. Unna. Ist ja nicht so weit“, sagt er und lässt sich wieder auf den Sitze fallen. „Die Jungen. Kein Respekt. Vielleicht, weil sie keine Arbeit haben oder schlechtes Zuhause.“
...Ich nicke, was habe ich damit zu tun.
...Außerdem ist es jetzt sehr laut im Wagen. Musik aus einem tragbaren Abspielgerät und dazwischen die Rufe der Halbwüchsigen, die sich in Lautstärke und Vulgaritäten zu übertreffen suchen: He, Alter, weissuwas, ich fick dein Schwester … ey, du, nee, ich aber, ich scheise fick dein scheise Mutter …
...Ob Wortwahl oder Geschrei, meinem Gegenüber ist die Sache anscheinend peinlich. Er legt einen Finger an die Lippen, sagt: „Bitte!“

...„Oho, ein Ordnungshüter“, sagt einer und tut erschrocken.
...Die Jungen tragen schwarz-gelbe Schals, bestickte Jeansjacken und haben ein dürres Mädchen in der Mitte. Sie schieben sich näher heran, einer, dick und rosig wie ein Schwein, setzt sich neben den Gepäckarbeiter, zwei quetschen sich selbst und das Mädchen auf die Bank, auf der ich sitze. Ich rücke näher zum Fenster, das Mädchen, halb gestoßen, halb freiwillig, rückt nach.
...Die Bande kichert, ich schließe die Augen und denke an ein Mädchen, eine junge Frau, die ich vor längerer Zeit kannte. Rosalie hieß sie und war nicht so ein dürres Hühnchen wie das neben wir. Rosalie mit ihren kastanienbraunen Haaren, den vollen Lippen und runden Hüften, die zum Streicheln einluden. Perfekt, alles war perfekt an Rosalie, bis auf eines, sie kam aus einer Familie, die in meiner nicht gelitten war. Rosalie, die weiche Wärme ausstrahlte und wie eine Rose duftete.
...Als ich den Zigarettenrauch rieche, öffne ich die Augen. Ein kurzer Blick, dann weise ich mit
dem Daumen auf das Verbotsschild und sage: „No smoking!“
...„Und? Haste ein Problem damit?“ Der dicke Junge bläst mir den Rauch ins Gesicht, sagt: „Ey, du bist gar kein Engländer. Bist ein Itaker, stimmt’s?“
...„Itaker sind scharf auf Weiber“, sagt einer von den beiden, die auf meiner Bank sitzen. „Oder auch nicht“, wirft sein Nebenmann ein. „Vielleicht trägt er ja Strapse unter seinem feinen Zwirn. Wir können ja mal testen, ob er schwul ist. Komm mal her, Jessi.“
...

****

...Nachdem sich das Mädchen erhoben hat, schubst der Junge Jessi auf meinen Schoß. Das Mädchen quiekt. Dann folgt ein völlig übertriebener Aufschrei: „Ey, Mann, Pfoten weg!“
...„He, der Macker betatscht deine Schwester. Wir sollten ihn bei der Sitte anzeigen.“
...„Warum nicht?“ Ich hole mein Telefon aus dem Tasche. „Welche Nummer soll ich wählen?“
...„Mensch, geiles Handy.“
...„Nein, das ist kein Handy“, betone ich, „das ist ein iPhone.“
...„Okay, gib es uns, dann zeigen wir dich nicht an wegen der Grapscherei.“
...Der Gepäckarbeiter, halb verdeckt von der Schulter des dicken Jungen, macht Zeichen der Beschwichtigung. Wenn mich nicht alles täuscht, steht ihm der Angstschweiß auf der Stirn.
...„Nun, so ein iPhone kostet 800 Euro“, sage ich zu dem Dicken. Während ich mit der linken Hand ganz betont das Revers meines Sakkos zurückschlage, lege ich mit der rechten das Mobiltelefon auf die Abdeckung des Müllbehälters am Fenster. „Da liegt es, Motherfucker. Fass es an – und ich schieß dir ein Loch in die Hand.“
...„Der Itaker blufft, das ist bestimmt nur eine Schreckschussknarre. Von wegen Loch inner Hand.“
...„Ja, aber nur wenn du Glück hast, wenn du Pech hast, reißt dir die abgeflachte Kugel die ganze
Hand ab.“
...Stille im Wagen, plötzlich kann man wieder das

Rattern der Räder vernehmen:
...
Un-na … un-na …un…na…na…na. Es klingt wie
der Name der nächsten Station. Komisch, auf welche Gedanken man bei einem Adrenalinschub kommt. Jeder Muskel in meinem Körper ist gespannt. Fast wünsche ich, dass es zur Gewaltexplosion kommt.
...Nichts.
...Einer nach dem anderen setzen sich die Jungen in Bewegung. „Wir müssen gleich raus, Itaker, hast Glück, morgen biste dran.“
...Als sich hinter dem letzten in der Gruppe die Schiebetür geschlossen hat, sagt der Gepäckarbeiter: „Tolle Cowboynummer!“
...„Ja, und alles mit einer billigen Replika.“
...„Sie klangen eben recht überzeugend.“
...„Muss man als Vertreter doch sein. Wenn ich zu einem Kunden sage, dies ist die beste Kaffeemaschine der Welt, dann muss er das nicht nur glauben. Nein, dann muss er das Aroma des frisch gebrühten
Espresso förmlich in der Nase und die aufgeschäumte Milch des Cappuccino vor Augen haben.“
...„Interessant. Sehr interessant.“
...Ja, denke ich, aber nicht nur das, sondern überlebenswichtig in meinem Beruf. Denn nur wer überzeugend wirkt, erspart sich und anderen eine Menge an richtigem Ärger. Normalerweise. Aber hin und wieder muss ich auch deutlich werden. Wie
gestern in Hörde. Die Vorführung mit der Walther
und den Wattestäbchen in den Ohren hatte nicht die gewünschte Wirkung gehabt.

*****

Vielleicht war dem Besitzer des Eiscafés La Primavera sein Hörvermögen egal, vielleicht hatte es sowieso schon von dem Gedudel der italienischen Schnulzen, die bei ihm liefen, gelitten. Aber die Gesundheit seiner Kinder, die einen gefährlichen Schulweg hatten, die war ihm nicht egal. Die Kleinen, überleg es dir gut, amico, sie würden nie wieder die Koseworte ihres Vaters vernehmen – ist es das wert? Mit diesem Satz hatte ich seine Fantasie angeregt, und das Eiscafé wieder auf Linie gebracht. Schon in der nächsten Woche würde eine meiner Cousinen die Gäste bedienen.
...Uun-na-na-naaaahh. Der Wagen hält. Die Jugendlichen steigen aus. Auf dem Bahnsteig grölen sie: „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!“ Immer wieder den einen Satz. Bis sie mich im Zug entdecken, da kommen sie angelaufen, bauen sich vor meinem Fenster auf, drohen mit den Fäusten. Der Dicke schlägt mit der flachen Hand gegen die Scheibe, läuft noch hinter dem Zug her, als dieser schon wieder anfährt.
...Mein Gegenüber schaut mich an, für meinen Geschmack ein wenig zu intensiv, sucht wohl, weil er selbst Angst hat, nach Anzeichen der Furcht in meinem Gesicht.
...„Kinder“, sage ich nur, und etwas später: „Wollten Sie nicht in Unna aussteigen?“
...„Ach, wissen Sie was, ich fahre noch ein Stückchen mit Ihnen mit und nehme dann von der Endstation in Soest die Hellweg-Bahn zurück nach Holzwickede.“
...Er macht, wie schon einige Male davor, mit angewinkelten Ellbogen und den nach oben gekehrten

Handflächen eine Geste der Beschwichtigung. „Ich meine, falls es Sie nicht stört.“
...
Der Gepäckarbeiter scheint mit der neuen Situation ganz zufrieden zu sein. Sicher ist er froh, einen guten Grund gefunden zu haben, nicht mit den Rabauken aussteigen zu müssen. Er wirkt entspannt und spricht jetzt ein viel flüssigeres Deutsch als zuvor. „Auf dem Rückweg von Soest kann ich dann vielleicht noch ein wenig schlafen. Wir machen Schichtarbeit und da …“
...Er unterbricht sich, weil sich sein Mobiltelefon mit dem Klingelton eines schreienden Babys meldet.
...Mit der Bemerkung „Nicht so schön wie Ihres“ zieht er das Handy aus der Brusttasche seines Flanellhemds und nimmt den Anruf entgegen.
...„Pronto … sì, sì, … accordo … ciao.“ Und dann zu mir: „Der Vorarbeiter vom Flughafen. Er ist auch Italiener, kommt aber aus Milano. Ein strenger Boss, ein bisschen nervös ist er derzeit, weil in unserer Gruppe jemand erwischt worden ist, der mit einer Kneifzange die Schlösser an den Koffern geknackt hat. Der Mann suchte Kameras und solch ein Zeug, ein Kalabrier, sehr peinlich.“
...Peinlich ist vielmehr, dass ich mir das anhören muss, diese Geschichten von Landsleuten aus dem Süden, die Koffer durchwühlen, weil sie im Grunde ihres Herzens die Hühnerdiebe geblieben sind, die sie in ihrer Jugend waren. Aber was zum Teufel gehen mich diese Ärmlichkeiten an?
...Wenn ich dagegen so an meinen allerersten
Auftrag denke ...

******

Nein, sagt mein Gegenüber und unterbricht meinen Gedankengang: „Nie hätte ich gedacht, dass ich so etwas mal sehen würde“. Er kommentiert den Vorfall mit den Kofferdieben, um nach einer Pause zu verdeutlichen: „Ich meine, dass es in Deutschland passiert, wo früher doch alle so diszipliniert waren und auf strenge Ordnung achteten.“
...Schon wieder etwas, worauf ich nicht eingehen will. „Tja“, sage ich. Ein tolles Wort, passt immer und manchmal hilft es, ein Gespräch zu beenden.
...Nachdem der Flaschensammler den Wagen verlassen hat, öffnet eine Frau die Schiebetür. Sie hat lange blonde Haare, ist ausgesprochen hübsch und obendrein, was man hier auch nicht so häufig sieht, elegant gekleidet. Ganz kurz schaut sie zu uns herüber, ich hoffe, dass sie sich in unsere Nähe setzt, doch dann rümpft sie die Nase und verlässt den Wagen.
...Schade. Bleibt mir nur der Blick aus dem Fenster. Lünern liegt hinter uns. Bauernland zieht vorbei. Gemüsefelder, Schafe auf der Weide, Windräder in der Ferne, und immer noch rinnen Regentropfen von den verkratzten Scheiben dieser komischen Hellweg-Bahn.
...Weil eine kleine Unterhaltung, deren Thema ich selbst bestimme, immer noch besser ist, als stumm den Regentropfen zuzusehen, frage ich: „Warum heißt dieser Zug Hellwegbahn?“ Man kann einem Fasteinheimischen keine größere Freude machen, als ihn um eine Auskunft zu bitten. Vertreterweisheit.
...Der Mann strahlt. „Nun ja, ich habe gehört, der Namen hängt mit der alten Bezeichnung Hal für Salz zusammen, davon gab es hier früher eine Menge. Hellweg gleich Salzstraße, sagen also die einen. Nein, sagen andere, Hell hat was mit der germanischen

Totengöttin Hel zu tun. Demnach heißt Hellweg dann so viel wie Weg zur Hölle. Way to hell or road to hell “, setzt er hinzu wie ein Reiseführer, der einer vielsprachigen Gruppe die Sehenswürdigkeiten erklärt. „La via all’inferno.“
...Während er mir noch weitere Erklärungen gibt, die zurückgehen bis zu den Zeiten, als römische Legionen durch diesen Landstrich zogen, bleibt der Zug stehen, mitten auf der Strecke zwischen Lünern und Hemmerde. Mein Gegenüber erlaubt sich noch einen Kalauer, indem er den Ortsnamen wie Hem-merda ausspricht, dann zuckt er mit den Schultern und sagt mit der Autorität eines Alteingesessenen: „Passiert schon mal, wir müssen einen anderen Zug vorbei lassen. Vielleicht gibt’s auch eine Baustelle oder
vor uns fährt ein Werkstattwagen. Ich habe gehört, dass die Strecke demnächst privatisiert wird
und dass dann schöne neue Züge eingesetzt werden, hoffentlich.“
...Unser Zug jedenfalls steht und Paolo, inzwischen hat er mir seinen Namen genannt, erzählt mir, dass er als junger Mann mit seinen Eltern von Kalabrien wegging. Dass sein Vater in Dortmund in einem Stahlwerk gearbeitet habe, das später von den Chinesen komplett mit Hochöfen und Walzwerk abgebaut und in China wieder aufgebaut wurde.
...„Mein Vater bekam eine Abfindung. Statt aber froh zu sein, nicht mehr zur Schichtarbeit zu müssen, wurde er immer unzufriedener. Und schließlich, nachdem er monatelang nur zu Hause gesessen hatte und meiner Mutter auf die Nerven gegangen war, fuhr er mit ihr zurück nach Locri, sein Heimatdorf in Kalabrien.“
...„Tja“, sage ich wieder einmal.

Fortsetzung folgt ......
am 1. Mai
.........


Aktualisiert am 15. März 2025 | kontakt@niklaus-schmid.de

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