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Kurzkrimi Nr. 15
Ein Weihnachtsmann auf Abwegen
Sein Gesicht unter dem riesigen Bart juckte. Er schwitzte. Der rote, mit weißem Pelz besetzte Mantel war schwer. Überdies hatte sich Marcel Schröer die Oberarme und Hüften mit Kissen ausgestopft. Von einem Weihnachtsmann erwarteten die Leute ein bestimmtes Format.
...Betont schwerfällig stapfte er, hier und da einem Passanten zunickend, über den Gehweg. Im Eingang des Kaufhauses blieb er stehen und hielt nach einem möglichen Streifenwagen Ausschau.
...Aus den Belüftungsgittern traf ihn ein unangenehm warmer Luftstrom, Weihnachtsmusik vom Endlosband drang durch die Bommelmütze in sein Ohr, doch ansonsten schien die Luft rein zu sein.
*
Entschlossen stieß er die gläserne Pendeltür auf und ging zur Rolltreppe. Niemand schien ihn bewusst wahrzunehmen, weder die Frauen mit den Paketen und Einkaufstüten in den Armen noch die Verkäuferinnen. Zwei Tage vor Heiligabend war den Leuten der Anblick von Weihnachtsmännern sehr vertraut.
...Die Personalabteilung befand sich im oberen Stockwerk. Zur letzten Etage nahm Schröer die Treppe. Am Treppenabsatz blieb er stehen. Als sich die Tür öffnete und ein Arbeiter im blauen Overall heraustrat, konnte er sehen, dass in dem Büro nur zwei Angestellte waren, eine ältere Frau in heller Bluse und ein Mann um die 30 im modischen Pullover. Kein Problem!, dachte Schröer. Seine Muskeln spannten sich.
...„Schenkst du mir was?“
...Schröer teilte die silberblonden Locken seiner Perücke, die ihm wie einem Hirtenhund die Augen verdeckten, und besah sich das kleine Mädchen. Es hatte große, blaue Augen. Aber Schröer mochte Kinder nicht, auch keine mit großen, blauen Augen. „Verdammt!“, entfuhr es ihm.
...Doch dann besann er sich auf seine Rolle und griff in die Manteltasche. Seine Finger berührten die Pistole – die Bonbons hatte er vergessen. „Später, Kleine, später“, grummelte er. Enttäuscht drehte sich das Mädchen um, und Schröer schritt zum Lohnbüro.
...Wortlos trat er in den Raum, wortlos verriegelte er hinter sich die Tür. Der älteren Angestellten, die irgendetwas über mangelnde Höflichkeitsformen .
murmelte, drückte er die Pistole gegen die Seidenbluse; dem jungen Mann, der von seinem Stuhl aufsprang, hieb er die Rute quer übers Gesicht.
...„Öffnen!“ Er deutete mit dem Kinn auf den Wandtresor. „Und keine Zicken!“ Mit einem weiteren Schlag machte er deutlich, dass er es ernst meinte.
...Drei Minuten später stand Schröer wieder auf dem Gang. Sein erster Raubüberfall hatte auf Anhieb geklappt. Der Jutesack auf seiner Schulter war zur Hälfte mit Banknoten und Kleingeldrollen gefüllt. Seine Vorarbeit, die darin bestanden hatte, als Ersatznikolaus herauszufinden, wo zur umsatzstarken Weihnachtszeit die Kassenabschläge bis zur endgültigen Einzahlung bei einer Bank aufbewahrt, also sozusagen zwischengelagert wurden, diese Vorarbeit hatte sich nun ausgezahlt.
...Im Personalaufzug hörte er, wie nach einer bestimmten Nummer gerufen wurde, die sich im Lohnbüro melden sollte, dringend. Wahrscheinlich war der Hausdetektiv gemeint.
...Schröer grinste. Ihm selber nachzulaufen, getrauten sich die beiden Überfallenen nicht.
...„Ich schieß euch die Kniescheibe weg“, hatte Schröer gedroht und, um zu zeigen, dass er zu allem entschlossen war, den Schlitten der Waffe zurückgezogen und den Hahn gespannt. Ein weiterer Beweis, dass es sich keineswegs um eine Spielzeugpistole handelte, war nicht mehr nötig gewesen.
**
...Die Fahrstuhltür öffnete sich. Schröer rief den Arbeitern auf der Verladerampe ein fröhliches „Endlich Feierabend!“ zu und trat ins Freie.
...Rechts ging es zum Münsterplatz. Sollte die Polizei bereits alarmiert sein, war dies die sicherste Zone. Durch den Passantenstrom und die Verkaufsstände würde sich kein Verfolger, geschweige denn ein Streifenwagen zwängen können.
...Mit dem geschulterten Jutesack tigerte Schröer durch die Fußgängerzone. In der Hirschstraße gegenüber dem Modehaus Walz stand frierend eine Gruppe peruanischer Musikanten. Hirtenflöten konkurrierten mit den fernen Glocken vom hohen Kirchturm des Ulmer Münsters und mit den Pfeiftönen einer Drehorgel gleich nebenan, wo ein Leierkastenmann beherzt die Kurbel betätigte, während ein Äffchen in Strickklamotten auf seiner Schulter turnte.
...Wenige Schritte weiter hatte ein Kerl, ganz in Schwarz und mit kalkweißem Gesicht, ein Abspielgerät aufgestellt und ließ zu der lauten Musik eine Marionette tanzen. Ein Pulk von Kindern und Jugendlichen bestaunte die Vorführung.
...Schröer wollte sich an der Gruppe vorbeidrängen. Doch ein Griff an seinen Mantelsaum hielt ihn jäh zurück. Die Faust, die sich in den Pelzbesatz geklammert hatte, gehörte einem kleinen Mädchen.
...„Hallo, lieber Weihnachtsmann!“
...Schröer überlegte, ob es die Kleine aus dem
Kaufhaus war. Denn die Kinder sahen zu dieser Jahreszeit, eingemummelt in Wintersachen und mit geröteten Gesichtern, alle gleich aus. Große, blaue Augen hatte auch dieses Mädchen – und eine
energische Faust.
...„Gibst du mir denn jetzt was?“ Das Kind stieß mit seinem Kopf gegen eine Frau, die gerade dem Marionettenspieler eine Münze zuwarf. „Mami, das ist der Nikolaus aus dem Kaufhaus, der mir ein Geschenk versprochen hat.“
...Es begann zu schneien, dicke, wässrige Flocken, die von dem Jutesack sofort aufgesogen wurden. Höchste Zeit für den Weihnachtsmann, dass er mit seiner Beute nach Hause kam.
...„Ho, ho, ho, ich hab noch einen weiten Weg vor mir“, sagte Schröer mit übertrieben dunkler Stimme.
...„Vielleicht nur ein Bonbon, guter Nikolaus“, zwinkerte ihm die Mutter des Mädchens zu. „Ich glaube, damit wäre meine Lisa schon zufrieden.“
...„Später, am Heiligen Abend, Lisa muss warten.“ Schröer machte einen Schritt zur Seite, doch die kleine Hand zog ihn wieder zurück.
...„Nein, jetzt! Bitte! Du hast es mir versprochen! Und was man verspricht, das muss man halten.“
***
..Der Marionettenspieler war der Erste, der auf das quengelnde Kind aufmerksam wurde. „He, Alter, gib der Kleinen was, ist doch schließlich dein Job! Und mir kannst du auch ’nen Euro in den Hut werfen.“
...Die Zuschauer johlten. Schröer fühlte Panik in sich aufsteigen. Er musste hier weg, schnellstens. Aber noch befand sich sein Mantel fest im Griff der kleinen Faust. Das Mädchen stolperte, fiel hin. Es weinte.
...„Geht so ein heiliger Mann mit Kindern um“, mischte sich ein Kerl im Militärparka ein.
...„Bestimmt ist das gar kein richtiger Weihnachtsmann“, plärrte Lisa. „Er hat ja keine Geschenke.“
...„Das wollen wir mal sehen“, schlug ein respektloses Bürschchen vor und langte nach dem Gabensack.
...„Pfoten weg da, Saubengel!“ Schröer schlug mit der Rute zu.
...Der Junge jaulte auf, seine Kameraden kamen ihm zu Hilfe. Sie krallten sich in die pelzbesetzten Ärmel und in die Hosenbeine des Weihnachtsmannes, sie zerrten an seinem Bart, stupsten gegen die Bommelmütze, entrissen ihm die Rute und den Gabensack.
...Der Größte in den Meute, ein Blonder mit leichtem Flaum auf der Oberlippe, übernahm Schröers Weihnachtsmannrolle und hielt dem kleinen Mädchen den Nikolaussack hin. „Hier, brauchst nicht zu heulen, hast freie Auswahl.“
...Unter dem Jubel der Menge stieß Lisas kleine Hand
in die Öffnung. Heraus kam sie mit einem Bündel
Banknoten. Ein Schrei aus vielen Kehlen: „Die sind
ja echt!“
...Vorbei war es mit der Vorweihnachtsstimmung. Hauen, Stoßen, Drängen, ein wildes Raufen um den Gabensack begann. Der Marionettenspieler warf ihn hoch in die Luft. Münzrollen klatschten aufs Pflaster und zerbrachen, Geldscheine rieselten zusammen mit den Schneeflocken auf den Boden.
...Schröer sah nur noch eine Chance. Er zog die Pistole. „Das ist meine Kohle!“, schrie er.
...In diesem Moment ertönte die Sirene eines Polizeiwagens. Schröer pfiff auf Nikolausrute und Gabensack. Auch die Pistole ließ er fallen.
...„Keine Spielzeugwaffen zum Fest der Liebe!“, sagte tadelnd der Marionettenspieler und stellte sich dem Flüchtenden in den Weg. Mit ein, zwei Tritten seiner schweren Stiefel räumte Schröer den Mann samt seiner Gliederpuppe beiseite. Schon sah er vor sich eine Lücke im Ring der Zuschauer, als hinter seinem Rücken eine kleine, aber durchdringende Kinderstimme rief: „Peng! Du bist tot, böser Weihnachtsmann!“
...Schröer spürte, wie links in seinem Brustkorb eine Rippe splitterte, wie sich Blut und Schweiß unter seinem Nikolauskostüm vermischten. Jemand öffnete ihm den Mantel, zog eines der Kissen hervor und legte es ihm unter den Kopf. Als nächstes fühlte Schröer schmelzende Schneeflocken auf seinem nun vom Rauschebart befreiten Gesicht
– und dann fühlte er gar nichts mehr.
Eine neue Geschichte erscheint ......
am 1. Januar.... .....