Niklaus Schmid


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Kurzkrimi Nr. 9

Kurzkrimi Nr. 9


Lieben Sie Katzen, Herr Nachbar?


„Mit so einem Traumwagen bin ich noch nie gefahren“, sagte die Frau und blickte voller Bewunderung auf den in Folie verpackten Ferrari. Ihre rauchige Stimme war noch einen Hauch kehliger geworden.
...Der Mann horchte auf. Plötzlich betrachtete er die Frau mit ganz anderen Augen.
...Sie war groß und schlank und trug ein enges schwarzes Kleid mit breitem roten Gürtel. Ihr halblanges Haar war dunkel und glatt, ihr Gesicht kühl und beherrscht: eine Frau, die selbst im Sommer glaubhaft Pelzmäntel vorführen könnte, überlegte der Mann. Überhaupt konnte er sich eine Menge bei ihr vorstellen, so sehr beflügelte sie nun seine Fantasie. Für eine Journalistin war sie recht stark geschminkt, fast etwas nuttig, aber das gefiel ihm.

*

...Die Frau ließ den Ringblock, in dem sie während des Interviews Notizen gemacht hatte, in ihrer Schultertasche verschwinden und kramte stattdessen eine Zigarettenspitze hervor. Sie riss den Filter von einer Zigarette und begann zu rauchen, in einem altmodischen Stil, der jedoch zu ihr passte.
...„Ich selbst habe ihn auch nur einmal gefahren“, sagte der Mann, eine Hand lässig in der Hosentasche seines Maßanzugs, der die gleiche Grautönung wie sein Schläfenhaar hatte. „Vom Händler bis zu dem Pavillon hier, den ich für das Schätzchen extra haben bauen lassen – und das war’s dann.“
...„Reizt es Sie nicht ein zweites Mal?“
...
„Kaum.“ Er hob die Schultern.
...„Nicht mal eine kleine Spazierfahrt?“ Ihre Hand folgte den Linien der Karosserie, und der Mann zuckte innerlich zusammen, weil ihre Fingernägel rot lackiert und spitz gefeilt wie Krallen waren.
...„Eine Spazierfahrt mit einem Ferrari der limitierten Edition“, sagte er bedächtig, „das wäre so, als würde ich Sie mit einer Zeichnung von Paul Klee zu einem Gartenfest einladen.“
...„Könnte mich beeindrucken“, sagte die Frau, während sie mit dem Mittelfinger ihrer rechten Hand das Firmenemblem auf der Haube, ein springendes Pferd, nachzeichnete.
...„Was wäre Ihnen eine Spazierfahrt denn so wert?“, fragte der Mann. Als ein in vielen Verhandlungsschlachten erprobter Geschäftsmann wusste er, dass die Konditionen von vornherein klar sein mussten.
..

...„Viel“, sagte die Frau und lächelte. „Sehr viel.“
...Der Mann spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Zwar würde so eine Spazierfahrt eine Menge Umstände bereiten – doch die Frau war diesen Aufwand wert.
...„Morgen Nachmittag?“
...Die Frau nickte. „Bis morgen dann, Herr Dr. Stockheim.“

Am Abend rief Stockheim seine Frau an. Er fragte nach dem Wetter im Urlaubsort und erkundigte sich nach dem Befinden der beiden Enkelkinder.
...„Doch ja“, sagte er, „das Gespräch mit dem Wirtschaftsmagazin ist bereits gelaufen, das heißt bis auf einen zusätzlichen Fototermin morgen. Und übermorgen komme ich dann.“ Er blickte zum offenen Kamin und nahm sich vor, Brennholz bereitzulegen. Offenes Feuer machte sich immer gut. „Ich dich auch“, sagte er abwesend und legte auf.
...Am anderen Tag gab Stockheim seinem Fahrer vorzeitig frei, setzte sich gegen Mittag selbst ans Steuer seines Mercedes und verließ die Firma.
...Zu Hause befreite er als Erstes den Ferrari aus der Plastikhülle und hängte das rote Nummernschild, das er sich von einem befreundeten Autohändler geliehen hatte, an die Stoßstange. So würde der Wagen, der nicht angemeldet war, während der bevorstehenden Spritztour versichert sein.
...Stockheim duschte und rasierte sich. Als er zum wiederholten Male sein Aussehen – dunkles Hemd zu einem schwarzen Leinensakko – vor dem Spiegel prüfte, hupte es draußen.

**

...Ihr japanischer Kleinwagen parkte neben dem Ferrari. „Hallo, hier bin ich.“
...Sie trug ein Sommerkleid mit tiefem Ausschnitt, hatte keine Strümpfe an und roch gut.
...Er hielt ihr den Schlag auf. Sie rutschte mit ihrem Hinterteil in das flache Fahrzeug, zog die langen Beine nach, und das alles in einer flüssigen Bewegung, während ihr Blick schon die Innenausstattung aus schwarzem Leder umfasste.
...Auf dem Weg zur Autobahn beantwortete Stockheim die Fragen seiner Beifahrerin:
...„Der Wagen hat einen Zwölfzylinder-V-Motor mit 4,7 Litern Hubraum, der 520 PS bringt. Spitzengeschwindigkeit 325.“
...„Kostenpunkt?“
...„Über dreihunderttausend. Wenn … “ Er machte eine Kunstpause. „Wenn man das Glück hat, zu den wenigen Auserwählten zu gehören. Denn der Wagen stammt, wie gesagt, aus einer limitierten Auflage.“
...„Tatsächlich?“
...„Ja, und das ist es, was die Leute so gierig macht. Sammler zahlen sozusagen jeden Preis. Natürlich muss das Fahrzeug neuwertig sein, nur wenig gefahren, kein Rost, keine Kratzer.“
...„Verstehe, deswegen der klimatisierte Raum und die Schutzfolie.“
...„So ist es.“
...In einer Kurve musste er herunterschalten. Er machte es wie bei seinem allerersten Wagen, einem VW Käfer: Kupplung, Zwischengas, Kupplung – nichts verlernt, es klappte noch immer.
...„Man sieht, es macht Ihnen Spaß.“

...„Es gibt nur eine Sache, die mehr Spaß macht“, sagte er mit einem raschen Seitenblick und fast gegen seinen Willen, denn Zweideutigkeiten waren eigentlich nicht sein Stil.
...„Geld haben?“
...„Nein, Geld haben, das ist langweilig. Geld machen“, betonte er, „das ist spannend. Wissen Sie was das hier ist?“ Er klopfte mit den Knöcheln gegen das Armaturenbrett. „Eine der schnellsten und sichersten Aktien.“
...„So? Warum verkaufen Sie dann Ihre rollende Aktie nicht auf der Stelle?“
...„Weil sie noch steigt. Im Moment könnte ich den dreifachen Einstiegspreis erzielen.“
...„Das wäre ja …“
...„… fast eine Million“, vollendete er ihren Satz.
...Nach einer Viertelstunde erreichten sie die Autobahn; besonders schnell war er bisher nicht gefahren. „Vor uns ist alles frei“, flüsterte sie und legte ihren nackten Fuß auf Stockheims Schuh.
...Obwohl es nicht viel mehr als ein Hauch war, schoss der Wagen nach vorn und Stockheim fühlte sich in den Sitz gepresst. Die Nadel des Drehzahlmessers kletterte in den roten Bereich.
...Ihm wurde ganz heiß im Nacken, seine Finger krampften sich um das Lenkrad. Wenn ich jetzt aufbrause, dachte er, ist der ganze Spaß dahin,
dann stehe ich da wie ein Spießer. Also sagte er
nichts und schaffte es sogar, ihr ein verwegenes Grinsen zu zeigen, während die Tachoanzeige die
260 km/h überschritt.

***

...Ihr Blick gab ihm das Gefühl, eine Prüfung bestanden zu haben. Bei der nächsten Ausfahrt setzte Stockheim den Blinker.
...Sie fuhren gegen die untergehende Sonne. Ihr Haar bekam einen rötlichen Schimmer und auf ihrer Oberlippe zeichnete sich ein feiner dunkler Flaum ab. Rasse, dachte Stockheim, das Weib hat Rasse, so wie dieser Wagen. Er räusperte sich.
...„Frau Alberti – oder darf ich Maren sagen?“
...„Nichts dagegen, Herr Dr. Stockheim“, sagte sie mit gleichmütiger Miene.
...Die Zeichen der Erregung, die er auf der Autobahn bei ihr wahrgenommen hatte, verschwanden bei dem vorschriftsmäßigen Tempo auf der Landstraße. Der Rest des Weges verlief schweigsam. Als sie an einem halb fertigen Bau im Stil einer Ritterburg vorbeifuhren, fragte sie: „Wem gehört denn das da?“
...„Einem Emporkömmling, der so gut in die Nachbarschaft passt wie sein kitschiges Schloss.“ Stockheim machte sich erst gar nicht die Mühe, seine Verachtung zu verbergen.
...Auf der Baustelle war ein halbes Dutzend Leute zu sehen. Wie auf Kommando ließen alle die Arbeit ruhen, als der Wagen vorbeifuhr. Ein besonders stämmiger Bursche, der einen Bauhelm über seine langen blonden Haare gestülpt hatte, stieß einen Pfiff aus, hob den
Arm und winkte heftig.
...Stockheim verzog keine Miene, starr blickte er geradeaus. „Mein neuer Nachbar, vor drei Jahren noch selbst Malocher, heute ist er Bauherr. Geld hat er wie

Heu, benimmt sich aber wie ein Oberprolet. Haben Sie das mit dem Nachpfeifen soeben mitbekommen?“
...Maren zuckte die Achseln, sagte nichts. Stockheim fuhr etwas forscher, als es die schmale Zufahrt eigentlich erlaubte, und als kurz darauf eine Katze den Weg kreuzte, legte Maren ihm besänftigend ihre Hand auf den Unterarm.
...Am Eingang zu seinem Grundstück hielt Stockheim an. Nachdem er mit einer Fernbedienung das Portal des Pavillons geöffnet hatte, fuhr er den Wagen zu seinem Standplatz.
...„Ich hoffe, es hat Ihnen gefallen, Maren“, sagte er und half ihr beim Aussteigen. „Mein Versprechen ist damit erfüllt.“
...„Meins steht noch offen. Ich hoffe, dass es Ihnen gefallen wird.“
...„Ich könnte den Kamin anzünden“, schlug
Stockheim vor.
...„Keine schlechte Idee. Aber ich muss früh raus, und Sie fahren morgen in Urlaub zu Ihrer Frau. Da würde ich vorschlagen, dass wir schnell zur Sache kommen.“
...Sie sah ihm in die Augen, machte ein paar flinke Bewegungen, und ehe sich Stockheim von dem Schreck über so viel Tempo erholt hatte, kringelte sich seine Hose bereits auf den Knöcheln. Stockheim schluckte.
...Als sie vor ihm in die Hocke ging, schluckte er ein zweites Mal, hörbar.
...„Bin ich zu schnell?“, fragte sie.
...„Willst du, wollen Sie sich nicht auch … ich meine, Ihre Sachen …?“

****

...Maren richtete sich auf, machte einen Schritt zur Seite und mit derselben Zielstrebigkeit, die sie zuvor schon an Stockheims Kleidung bewiesen hatte, befreite sie sich von ihrem Kleid und zog auch gleich das Spitzenhöschen aus. Dann drehte sie sich um.
...Wie gebannt starrte Stockheim auf Marens Körpermitte. Aber nicht, weil sie in ihrem Nabel einen Glitzerring trug, und auch nicht, weil ihr Schamhaar in Herzform rasiert war. Was Stockheim so faszinierte, war der helle Fleck inmitten ihres dunklen Kräuselhaars.
...Denn Maren, die Rassefrau, die alles hatte ­– Brüste und Po und eine wahnsinnig erotische Ausstrahlung –, diese Frau hatte auch einen Penis. Er war klein, ohne Erektion, niedlich, wenn man so will, aber es war nun mal keine groß geratene Klitoris, nein, es war ein männliches Geschlechtsteil!
...„Was ist, gefalle ich Ihnen nicht?“, fragte sie, fragte er oder es, fragte dieses Zwitterwesen und lächelte.
...Stockheim fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Trotz der Klimaanlage, die den Raum auf eine moderate Temperatur und knappe vierzig Prozent Luftfeuchtigkeit hielt, hatten sich dort Schweißperlen gebildet.
...Tja, alter Junge, da bist du also reingelegt worden, von einer umgebauten Schwuchtel, von einem Hermaphroditen, einer Transsexuellen oder was auch immer.
...„Enttäuscht?“, fragte das Zwitterwesen.
...„Nein“, sagte Stockheim tonlos. „Aber das war’s
.....„Nein“, sagte Stockkeim tonlos. „Aber das war’s

dann wohl.“
...
„Seien Sie nicht dumm! Wir können eine Menge Spaß haben miteinander.“
...Nun, es gab Erfahrungen, die ein Mann von Welt einfach mal machen musste, ging es Stockheim durch den Kopf, Erfahrungen, ohne die er sonst, trotz Ferrari und eigener Firma, sein Leben lang ein spießiger Kleinbürger blieb.
...„Drehen Sie sich bitte rum“, sagte Stockheim. „Ich, ähm, ich schätze, der Wagen hat die richtige Höhe.“
...Die unübliche Stellung, der außergewöhnliche Ort und das Gefühl, etwas Verwegenes zu tun, brachten Stockheim in Sekunden auf den Höhepunkt. Er hielt inne und dachte, um zu verzögern, an ein paar unangenehme Personalentscheidungen, aber es half nichts. Es war vorbei, ehe es richtig begonnen hatte.
...„Das ging aber schnell, Herr Dr. Stockheim“, hörte er Maren sagen. „War wohl Ihre Premiere.“
...„Hm.“
...Ihm fiel kein gescheites Wort ein. Und so blieb es eine Zeit lang still, bis auf ein paar feine, unbestimmte Geräusche, die aus dem Wageninneren kamen und die Stockheim dem sich allmählich abkühlenden Motor zuordnete.
...Maren zog sich an. „Ich verschwinde mal am besten.“
...„Bitte bleiben Sie noch“, sagte Stockheim, trat hinaus in die Dämmerung und kam wenig später mit einer Flasche Champagner und zwei Gläsern zurück.

*****

...Maren begutachtete die Marke und den Jahrgang und nickte anerkennend. Der Korken ploppte, der Champagner perlte in den Gläsern, sie stießen an. „Auf die Premiere!“
...Nach einem herzhaften Schluck, der Stockheim besser schmeckte als je ein Schluck zuvor, sagte er: „Was dagegen, wenn ich das Auto für den Winterschlaf präpariere, während wir noch ein Gläschen leeren?“ Er vermied die direkte Anrede, weil er, ungeachtet der doch nun näheren Bekanntschaft, das Du zu vertraulich, das Sie wiederum zu steif fand.
...Maren hatte nichts dagegen, und Stockheim begann mit den Vorbereitungen. Er löste das rote Nummern-
schild von der Stoßstange und zog mit Marens Hilfe die Plastikplane über den Wagen. Dann schaltete er eine Vakuumpumpe ein, die er laufen ließ, bis sich die Hülle eng an die Karosserie schmiegt hatte.
...Wie das Ausstellungsstück eines Verpackungs-
künstlers sah der Ferrari nun aus. Wieder einmal war Stockheim ganz hingerissen von diesem Meisterwerk der Technik. Doch plötzlich weiteten sich seine Augen. Hinter der Plastikhülle bewegte sich ein kleiner Kopf, schwarz, mit blauen Augen. Eine rosa Zunge wurde sichtbar, Zähne bleckten, doch der Schrei blieb aus. Es wirkte wie ein Fernsehbild ohne Ton.
...Obwohl das Bild durch die Plastikhülle verzerrt war, konnte Stockheim doch deutlich erkennen, dass es sich um eine Siamkatze handelte. Sie presste ihre Vorderpfoten gegen die Plastikhülle und sperrte ihr Mäulchen zu einem lautlosen Miauen auf. Stockheim
rutschte das Sektglas aus der Hand und zersprang

in tausend Stücke.
...„Was ist, haben Sie ein Gespenst gesehen?“,
fragte Maren.
...„Ach, nichts“, wehrte er ab. „Aufregender Tag.
Und morgen wird so einiges auf mich zukommen.“
...„Schon verstanden.“ Mit einem spöttischen Blick wandte sich Maren zum Ausgang.
...„Moment, warten Sie!“ Hastig löschte Stockheim
das Licht.
...Als er den Pavillon verließ, saß Maren bereits hinter dem Steuer ihres Wagens. Die Scheinwerfer flammten auf und fielen auf eine Gestalt, die sich auf dem Kiesweg näherte.
...Es war Stockheims Nachbar.
...Neben dem Wagen blieb er stehen, sprach mit der Fahrerin, dann setzte er seinen Weg fort. Dicht vor Stockheim baute er sich auf und sagte, indem er mit dem Daumen über die Schulter wies: „Nicht schlecht, was Sie da aufgerissen haben dank Ihrer tollen Kutsche.“
...Stockheim sagte nichts, rümpfte nur die Nase. Der Kerl vor ihm roch nach Schweiß und Bier.
...„Übrigens, mein Name ist Mackiol, Günter Mackiol. Ich schätze, wir werden uns vertragen müssen, als Nachbarn, meine ich.“
...Stockheim übersah die ihm dargebotene Hand.
„Gute Nacht, Herr Mackiol.“
...„Moment mal, da wäre noch was: Zufällig eine
Katze gesehen?“
...Stockheim schüttelte den Kopf.

******

...„Bestimmt nicht? Ist ein Siammischling, hell, schwarzes Köpfchen, blaue Augen, trägt ein Halsband.“ Mackiol sprach fast ohne die Lippen zu bewegen, eine Fähigkeit, die man im Gefängnis lernt.
...„Nein“, sagte Stockheim entschieden.
...Mackiol verschränkte die Arme vor der breiten Brust. Trotz der Abendkühle trug er nur ein Unterhemd. Er ruckte mit den Schultern, und der Katzenkopf, den er auf dem linken Oberarm tätowiert hatte, bewegte sich im Spiel der Muskeln.
...„Lieben Sie Katzen, Herr Nachbar? Ich meine, solche mit vier Beinen?“
...„Gute Nacht, Herr Mackiol.“ Stockheim betonte jede Silbe. Er wandte sich ab, ließ Mackiol einfach stehen. Als er die Haustür erreichte, hörte er ihn rufen: „Luna! Luna, miez, miez, wo bist du? Luna, Lunita!“
...Stockheim überlegte, ob er in den Pavillon gehen und die Plastikhülle von dem Ferrari nehmen sollte. Doch unbemerkt von Mackiol, der immer noch nahe dem Grundstück nach seiner Katze suchte, wäre das nicht möglich. Außerdem, so redete er sich ein, zu retten war die Katze sowieso nicht mehr. Also verschob Stockheim das, was zu tun war, auf den anderen Morgen, stellte den Wecker, trank noch ein Glas Champagner und legte sich ins Bett.

Es war nicht der Wecker, der ihn aus den Träumen riss. Stockheim richtete sich auf, lauschte eine Weile und dann wusste er, was ihn geweckt hatte: das Dröhnen
eines Motors, ganz nah.

...Mit einem Sprung war er aus dem Bett und hin
zum Fenster.
...Vor dem Haus tuckerte ein Bagger. In der Führerkabine saß Mackiol. Der Rasen im Vorgarten war von tiefen Radspuren aufgewühlt.
...Stockheim riss weit das Fenster auf. Wut hatte sein Gesicht dunkelrot gefärbt und die Halsschlagadern dick hervortreten lassen.
...„Sind Sie verrückt geworden! Was machen Sie auf meinem Grundstück?“
...„Meine Katze, ich suche meine Katze.“
...„Suchen Sie das Viech woanders, Sie Idiot!“
...„Die ist aber dort.“ Mackiol streckte seinen Arm aus der Kabine und schwenkte etwas. „Sie hat nämlich ein Halsband mit einem Miniatursender um, und mit diesem Ding hier kann ich anpeilen, woher die Signale kommen; und die kommen haargenau aus der Richtung.“ Die Baggerschaufel folgte seiner Armbewegung und zeigte nun auf den Pavillon, hinter dessen Wänden, verpackt in einer Plastikhülle, der Ferrari stand.
...„Machen Sie die Tür von dem verdammten Schuppen auf! Ich will nachsehen.“
...„Den Teufel werden Sie!“, schrie Stockheim.
...„Wer will mich denn daran hindern?“
...Die Fäuste auf das Fensterbrett gestützt, das Kinn vorgereckt, als könne er dadurch der Unverschämtheit Einhalt gebieten, lehnte sich Stockheim weit aus dem Fenster und schrie: „Ich! Ich werde Sie daran hindern, ich, ich, ich!“
..

*******

...„Aber wie denn, Sie Klugscheißer?!“
...Stockheim ging, nein, er sprang vom Fenster zurück in den Raum, durcheilte sein Schlafzimmer und den Flur zum Nebenraum, wo er einen Wandschrank aufschloss, ein Jagdgewehr aus der Halterung riss und anschließend eine Patronenschachtel aus einem anderen ebenfalls verschlossenen Schrank fischte.
...In weniger als einer Minute hatte er die Waffe geladen, die er nur noch ein einziges Mal aus der Hand legte, und zwar, als ihm bewusst wurde, wie lächerlich ein nackter Mann mit einer Zwillingsbüchse in der Hand wirken musste. Bekleidet mit einem Bademantel stürmte er aus dem Haus, postierte sich zwischen dem Baufahrzeug und dem Pavillon und rief: „So, und jetzt runter von meinem Grund und Boden!“
...„Ach, nee, ein richtiges Schießgewehr!“, höhnte Mackiol.
...„Ja, und es ist geladen.“
...„Geladen, das kann ja sein, aber Sie werden damit nicht schießen“, sagte Mackiol mit einem herausfordernden Grinsen. „Sie haben einfach nicht
den Mumm dazu.“
...Er betätigte einige Hebel an seiner Baumaschine. Hydraulik zischte, der Motor heulte auf. Die dicken Stollen der Räder fraßen sich in den Untergrund, wirbelten Kies und Rasenfetzen auf. Der Bagger setzte sich in Bewegung.
...„Zur Seite da, Sie Leichtgewicht!“, rief Mackiol.
Stockheim hob die Waffe, zielte auf die Führerkabine, legte den Finger an den Abzug – und sprang im

letzten Augenblick zur Seite.
...Ehe er die neue Situation einschätzen konnte, hatte die Schaufel mit den handgroßen, stählernen Zähnen die Eichenpforte des Pavillons zersplittert. Beim zweiten Anlauf rollte das Fahrzeug über gesplittertes Holz und Steine und stieß bis zur Garagenmitte vor.
...Stockheim sah, wie Mackiol vom Fahrersitz sprang, zwei oder drei Sekunden mit dem Peilgerät in der Hand im Halbdunkel umhertappte und schließlich vor dem bislang unbeschädigten Ferrari stehen blieb. Mit einem Griff in die Hosentasche förderte er ein Klappmesser zu Tage, ließ es aufschnappen und zerschlitzte die Plastikhülle.
...Als er wieder nach draußen kam, hielt er eine Katze in den Armen. Sie war sandfarben mit dunklen Pfoten und schwarzem Köpfchen, ihre Zungenspitze hing zwischen den gebleckten Fangzähnen, die Augen waren weit aufgerissen und blau, aber ohne Glanz.
...Tränen liefen über Mackiols Gesicht. Behutsam legte er das tote Tier auf den Rasen. Dann stieg er wieder in sein Fahrzeug, betätigte einige Hebel, hob die Schaufel bis an die Garagendecke, schwenkte sie zur Seite über den Ferrari und ließ sie dort von oben herabkrachen. Der Schlag mit dem tonnenschweren Löffel verminderte die Höhe des an sich schon flach konstruierten Sportwagens noch einmal um die Hälfte. Den Rest besorgten die Reifen des stählernen Ungetüms, als es sich vor und zurück bewegte und schließlich wie ein Panzer auf der Stelle drehte.

********

...Der Mann in der Kabine verstand sein Handwerk. Stockheim wunderte sich, dass ihm just dieser Gedanke in den Sinn kam. Er stand da, schaute zu und redete sich ein, dass alles, was er sah, nur ein böser Traum war. Weder hörte er den Kleinwagen die Auffahrt herauffahren noch die Schritte, die sich ihm näherten.
...Er blickte sich erst um, als ihn eine weibliche, aber ungewöhnlich rauchige Stimme ansprach: „Hallo, wird hier ein Film gedreht?“
...„Könnte man so sagen.“
...„Meine Zigarettenspitze, ich muss sie gestern in Ihrem Wagen verloren haben. Nichts Wertvolles. Nur, ich dachte mir, so ein dummes Ding kann Ärger bereiten, wenn es die falsche Person findet. Aber wie ich sehe“ – sie wies zu dem Wirrwarr aus Glas, Metall und Karbonteilen, der einst ein Ferrari war – „wie ich sehe, hat sich dieses Problem erledigt.“
...Schnaubend kam der Bagger aus dem Pavillon. Mackiol fuhr einen Schlenker, stieg ab, hob die tote Katze vom Rasen auf, legte sie sich wie ein Kind in die Armbeuge und schwang sich wieder auf den Fahrersitz. Die Trauer verlieh seinem sonst eher primitiven Gesicht Würde und Schönheit.
...„Jeder Zoll ein Held“, sagte Stockheim ironisch, als
er Marens Blick bemerkte.
..

...„Und Sie?“
...
„Ich? Ich spiele hier nur eine Nebenrolle, warte sozusagen auf meinen Einsatz.“ Es sollte überlegen wirken, klang aber nur bitter. „Wenn Sie Lust haben, hier zu bleiben, können Sie mir bei den Aufräumarbeiten zusehen.“
...Maren hatte das schwarze Kleid an, das sie am ersten Tag ihrer Begegnung getragen hatte. Stockheim fand sie verführerischer denn je. Es traf ihn hart, als sie den Kopf in den Nacken warf und lachte: „Männer in Nebenrollen liegen mir nicht.“
...Mit drei, vier schwungvollen Schritten war sie bei dem Baufahrzeug, lächelte den Fahrer an und sagte, indem sie über das staubige Blech strich: „Mit so einem Monster bin ich noch nie gefahren.“
...Mackiol reichte ihr die Hand, zog sie zu sich hoch. Sie fuhren los.
...„Und ich?“, fragte sich Stockheim.
...Eine blasse Sonne schob sich über den nahen Hügelkamm, ihre Strahlen fielen auf das Baufahrzeug und auf das Paar in der Führerkabine. Langsam, fast bedächtig hob Stockheim das Jagdgewehr an die Schulter, zielte.
...Als Kimme und Korn und der Kopf des Mannes in einer Linie lagen, drückte er ab.

- ENDE -

Eine neue Story folgt......
am 1. Dezember
.......



Aktualisiert am 15. April 2024 | kontakt@niklaus-schmid.de

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