Niklaus Schmid


Direkt zum Seiteninhalt

Kurzkrimi Nr. 4

Kurzkrimi Nr. 4


Vorsicht Wildwechsel!


Das sandfarbene Auto fuhr durch die dunkle Nacht. In regelmäßigen Abständen schnappten die Schein-
werfer nach den gleißenden Punkten der Begrenzungs-
steine, fraßen sich näher, tasteten nach den nächsten. Der Mann am Steuer war klein und grauhaarig. Mit ausgestreckten Armen lenkte er den Wagen so, dass der Stern auf der Kühlerhaube immer eine Handbreit vom Mittelstreifen entfernt war. Nur einmal, als zwei Lichtpunkte im Rückspiegel auftauchten, fuhr er vorsichtshalber rechts heran.
...Das Fahrzeug, ein dunkler Kombiwagen, überholte ihn mit hoher Geschwindigkeit. Nachdem die Schluss-
lichter hinter einer Kurve verschwunden waren, griff der Fahrer zum Mobiltelefon.

*

....„Trude, ich bin’s. Ja, schon auf dem Rückweg. In einer viertel Stunde bin ich zu Hause. Ja, das Fohlen ist wohlauf, und der Stute geht es besser.“ Erleichterung klang in Dr. Gerlachs Stimme, denn seine Befürchtung, das Tier womöglich mit einem hochdosierten Barbiturat einschläfern zu müssen, war nicht eingetroffen.
...Geduldig hörte sich der Arzt noch die Ermahnungen seiner Frau an und versprach, vorsichtig zu fahren. Sie hat recht, dachte er. Wieder einmal nahm er sich vor, seine Praxis einem jüngeren Kollegen zu übergeben. Nur war das in einer ländlichen Gegend, wo der Tierarzt wegen einer kranken Kuh auch schon mal nachts aus dem Bett geholt wurde, gar nicht so einfach.
...Das Geräusch des gleichmäßig drehenden Motors wirkte ermüdend. Er drückte das Gaspedal etwas tiefer, nahm aber sofort wieder den Fuß hoch, weil im Fernlicht ein Schild aufleuchtete, das vor wechselndem Wild warnte.
...Beiderseits der kurvenreichen Straße ragten Pappeln in den bewölkten Himmel. Nebelfetzen hingen zwischen den Stämmen. Nach etwa drei Kilometern wichen die Baumreihen einer Schonung, die engen Kurven hörten auf.

...Die Straße war nun übersichtlicher, und der Fahrer wollte schon beschleunigen, als die Scheinwerfer etwas erfassten, was am Straßenrand lag. Beim Näher-
kommen sah der Arzt, dass es ein Reh war.
...Dr. Gerlach hielt den Wagen an, schaltete das Warnlicht ein und ging auf das Tier zu. Kopf und Vorderbeine ruhten im Gras der Böschung wie leblos; doch mit strampelnden Hinterläufen versuchte das Reh, von der Stelle zu kommen. Je näher der Arzt kam, desto verzweifelter wurden die Bemühungen des Tieres, sich in die Dunkelheit zu retten. Das Reh würde nie wieder laufen können. Der Arzt schüttelte den Kopf, murmelte: „Helfen kann ich dir nicht. Aber leiden sollst du auch nicht.“
...Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis er die Giftampulle geholt und die Flüssigkeit in die Spritze aufgezogen hatte. Mit eiligen Schritten überquerte er die Straße. Er beugte sich über das Tier, vermied es, in die vor Schmerzen und Schrecken geweiteten Augen zu sehen, und stieß mit der Nadel zu. Der Tod kam schnell und als Erlöser. Mehrmals blickte der Arzt von dem verendeten Reh zu seinem Auto. Dann hatte er sich entschlossen.

**

...Er stieg in den Wagen, setzte ein Stück zurück und fuhr schräg zur anderen Straßenseite. Erst jetzt bemerkte er auf der Fahrbahn die schwarzen Bremsspuren und an deren Ende glitzernde Glassplitter. Dicht vor dem Kadaver hielt er das Auto an. „Besser ist besser“, keuchte er, während er das tote Reh in den Kofferraum wuchtete. Er wischte sich die Hände an einem Taschentuch ab, öffnete die Tür und hatte auch schon den rechten Fuß im Wagen; doch eine Stimme ließ ihn erstarren.
...„Keine Angst, Alter! Wir wollen nur ein Stückchen mitfahren.“ Der Mann, dem die Stimme gehörte, war groß und blond. Das Autolicht fiel auf ein junges Gesicht mit durchtriebenen Zügen.
...Obwohl dem Jungen Blut in die Stirn sickerte, bezweifelte der Arzt, dass es sich um einen normalen Verkehrsunfall handelte. Das Knirschen von Schritten hinter ihm sowie das Geräusch eines aufklickenden Messers machten die Lage deutlich.
...Der zweite Mann, der hinter dem Wagen gelauert haben musste, zischte: „Einsteigen! Und keine Dummheiten, ich sitze hinter Ihnen.“

...„Das scheint mir doch eine äußerst unverfrorene
Art und Weise, jemanden um Hilfe zu bitten“, sagte
der Arzt.
...„Wir wollen nur sichergehen, dass Sie uns die Hilfe nicht verweigern.“ Der Blonde setzte sich grinsend auf den Beifahrersitz.
...„Stammt die Verletzung an Ihrem Kopf …?“
...Ein brutaler Schlag ließ ihn verstummen. „Keine Fragen! Sie sollen fahren, sonst nichts.“

~

Wieder folgte der Wagen dem Band der Landstraße. Eine Windmühle auf freiem Feld tauchte auf, ein Bauernhaus in der Ferne. Ab und zu gab einer der beiden Männer dem Arzt eine knappe Anweisung.
...Er blickte zur Seite. „Hören Sie, falls es darum geht, dass Sie kein Fahrgeld haben …“
...„Der hat nichts begriffen“, sagte der Blonde.
...Sein Partner auf der Rückbank ließ nur ein verächtliches Schnaufen hören. Etwas später knurrte er: „Langsam! Bei den ersten Bäumen da vorne zweigt ein Weg links ab. Da wollen wir rein.“

***

...Dr. Gerlach gehorchte. Übereifrig brachte er den Wagen sogar fast zum Stehen, denn hinter ihnen näherte sich ein Fahrzeug. Doch es war kein Polizeiwagen, wie er gehofft hatte, sondern ein Kleintransporter. Als der Lieferwagen auf gleicher Höhe war, hämmerte Dr. Gerlach wild auf die Hupe.
...Im selben Moment packte ihn eine Faust und riss ihn zurück. „Noch so eine tolle Idee, und ich werde ungemütlich.“
Mit jedem Meter, den sie in den Wald vordrangen, verstärkte sich seine Angst. Seinem Gefühl nach näherten sie sich einem Naturschutzgebiet, das er vor längerer Zeit mal mit seiner Frau besucht hatte. Es roch nach Wasser und modrigen Blättern. Als sich der Weg gabelte und kurz darauf auf einen Zaun zulief, befahl der Mann auf dem Rücksitz, anzuhalten.
...Hinter dem Zaun, nahezu von Bäumen verdeckt, stand eine Blockhütte. Wenn dies der Schlupfwinkel der beiden ist, überlegte der Arzt, werden sie mich wohl kaum wieder freilassen.
...Der Blonde stieg aus. „Mal sehen, ob die Luft rein ist.“
...Der kurze Moment, in dem die Innenleuchten

aufgeflammt waren, hatte ausgereicht. Auf einmal wusste der Arzt, wo er das Gesicht des Mannes
hinter ihm schon einmal gesehen hatte: in den Abendnachrichten des Fernsehens. Dort hatten sie den Ausschnitt eines Videostreifens gezeigt, den eine versteckte Kamera von dem Überfall auf einen Supermarkt aufgenommen hatte. Der Mann, der die Kassiererin mit einem Messer bedrohte, trug eine Wollmütze, war stämmig, um die dreißig, hatte helle Augen und wulstige Lippen.
...„Sie sind ins Grübeln gekommen, Alter.“
...„Mit so einer Wunde, wie Ihr Freund sie hat, ist nicht zu spaßen“, sagte Dr. Gerlach ernst.
...„Ach, was Sie nicht sagen!“
...„Ich bin Arzt. Ich könnte ihm helfen, meine Tasche liegt im Kofferraum.“
...„Und die wollen Sie nun holen, stimmt’s?“ Die Stimme war voller Hohn.
...„Ja, warum nicht?“
...Der Mann stieß einen Laut der Geringschätzung aus. „Keine Mühe, Doktor! Wollte mir sowieso mal die
Beine vertreten.“

****

...Sobald er allein im Wagen war, tippte Dr. Gerlach die Nummer des Notrufs ins Mobiltelefon. Er brachte die Lippen ganz nahe an den Apparat und flüsterte: „Hallo …“ Weiter kam er nicht.

~

„Ist er tot?“, fragte der Blonde mit Blick auf die zusammengesunkene Gestalt hinter dem Steuer.
...„Jedenfalls ohne Bewusstsein.“
...„Was war denn los?“
...„Er wollte uns reinlegen. Außerdem glaube ich, dass er mich erkannt hat.“ Er klopfte auf den Deckel des offenen Kofferraums. „Feines Wägelchen, das er uns vererbt hat – mit Inhalt.“ Er zeigte auf das Reh. „Ein paar Tage warten wir hier, dann verschwinden wir über die Grenze.“
...„Was wird mit ihm?“
...„Ich bring ihn weg.“
...„Kannst dir Zeit lassen, Rafa“, sagte der Blonde. „Ich mach uns erst mal was zu futtern. Ach, lass doch dein scharfes Messer hier!“

~

Rafa wischte sich das Fett von den Lippen. „Hm, das war ausgezeichnet!“
...Der blonde Junge grinste geschmeichelt. „Einen Schnaps könnten wir jetzt gut gebrauchen“, bemerkte


er und stand auf.
...Als er zurückkam, sagte Rafa etwas zusammenhanglos: „Komischer Kauz, dieser Alte.“
..
„Wieso?“, erkundigte sich der Blonde.
...„Na ja, seltsam, dass ein studierter Mann wie er sich ein Reh unter den Nagel reißt – und dann zum Schluss diese Arie.“ Er lachte auf. „Während ich ihm im Laub sein Ruhebett kratze, kommt der doch noch mal zu sich und murmelt: ‚Das Fleisch vom Reh ….das Fleisch vom Reh …’ “
...Der Blonde blieb ruckartig stehen. „Und was weiter?“, krächzte er. Sein Gesicht verzerrte sich. Er machte zwei Schritte und versuchte, die Schnapsflasche auf den Tisch zu stellen, schaffte es aber nicht, weil irgendetwas mit seinem Sehvermögen nicht stimmte. Die Flasche klatschte auf den Boden. „Was, sag schon, was hat der Alte von dem Rehfleisch erzählt?“
...„Nichts! Ich habe ihm den Mund gestopft.“ Rafa blickte in die vor Entsetzen geweiteten Augen seines Partners. „He, Junge!“, rief er. Er wollte ihn fragen, was an den Worten des alten Narren denn so wichtig sein könnte.
...Doch da spürte er einen stechenden Schmerz, der vom Magen ausging und seinen ganzen Körper durchflutete – und das war dann wohl die Antwort.

- ENDE -


Aktualisiert am 15. Mai 2021 | kontakt@niklaus-schmid.de

Zurück zum Seiteninhalt | Zurück zum Hauptmenü