Niklaus Schmid


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Kurzkrimi Nr. 3

Kurzkrimi Nr. 3


Bunter Abend


Mein Freund Knut meint, wir mit unserem Verein verkörperten den Urkommunismus. Oder das Urchristentum, was gewissermaßen das Gleiche sei. Er meint das, weil wir nämlich das Geld abgeschafft haben. Nicht in der Welt, da regiert es ja weiter, aber eben in unserem Verein.
...Die Idee hatte Christof, obwohl das Tauschen, wie Sie wissen, eine alte Handelsform ist. Bodo, Waltraud, Dora, Guido und Frank schlossen sich an. Günter war das siebte Gründungsmitglied. Korrekt wäre es, ihn Dr. Günter Hohmann zu nennen. Aber wir duzen uns alle. Keine Titel, keine Dünkel, bei uns zählt nur das Talent. Und irgendetwas kann jeder gut.

*

...Christof kennt sich bestens bei den Behörden aus. Der kann Briefe schreiben, da nehmen die Sachbear-
beiter beim Lesen schon Haltung an. Bodo hat ein Dieselauto, viel Freizeit und fährt gern; für Taxidienste ist er jederzeit zu haben. Seine Frau Anke hütet gern Kinder. Guido ist ein geschickter Bastler, Waltraud kocht und backt mit Leidenschaft; ihr achtschichtiger Blätter-
teig ist ein Gedicht. Franzosen würden bei ihr die Croissants kaufen, das heißt, wenn sie könnten. Geht aber nicht, weil wir ja nur tauschen. So schneidet Dora beispielsweise Frank die Haare und kriegt dafür aus dessen Garten biologisch angebautes Gemüse.
...Unsere Währung heißt Talent. Werden die Gegen-
leistungen nicht auf der Stelle erbracht, kommen die Talentpunkte auf ein Konto. Komplizierte Satzungen gibt es in unserem Verein nicht. Wichtigste Regel ist, dass die Mitglieder ihr Konto nicht aufstocken, sondern möglichst schnell ausgleichen. Wie unsere Bilanz aussieht, erfahren wir von Christof. Er ist Computer-
fachmann, führt Buch über unsere Tauschgeschäfte und gibt monatlich eine Liste heraus. Bei den meisten Mitgliedern halten sich die Hilfeleistungen die Waage. Nur Guidos und mein Konto weichen von der Norm ab. Seins ist stark im Plus, meins tief im Minus.
...Bei mir hat sich das so zusammengeläppert.
...

Dabei bin ich noch gar nicht lange im Verein. Ich kam als Letzter und wurde, anders kann ich es nicht nennen,
mit offenen Armen aufgenommen. Sicher nicht zuletzt
durch Dr. Hohmanns, also Günters, Fürsprache. Er sagte, als er mich vorstellte:
...„Freunde, das ist Viktor, dem Manne kann geholfen werden.“
...Pathetisch oder nicht, es stimmte. Ich hatte keine Wohnung, keine ordentlich Kleidung, Arbeit hatte ich auch nicht. Für mich war der Verein ein absoluter Glücksfall. Günter besorgte mir ein Zimmer, Bodo stellte Bett und Stuhl hinein. Von Frank, der so meine Figur hat, kriegte ich zwei Anzüge. Waltrauds Koch-
künste habe ich schon erwähnt. Christof schrieb etliche äußerst geschliffene Bewerbungsbriefe für mich – leider ohne Erfolg –, und Guido renovierte meine Bude. Tipptopp! Gekostet hat mich das alles nichts.
...Wann immer ich diesen Punkt im Verein ansprach, sagten die anderen nur: „Mach dir keine Sorgen, Viktor, irgendwann wirst du dich revanchieren, und zwar mit einer Arbeit, die dir Spaß macht.“
...So ähnlich sprach Günter auch vor Kurzem zu mir, als wir zusammen zum Vereinstreffen gingen. Die Stimmung schien mir an jenem Abend nicht so unbeschwert zu sein wie sonst.

**

Ich denke, das hatte mit dem ersten Punkt der Tagesordnung zu tun. Es ging darum, dass sich alle Mitglieder gegenüber Guido im Minus befanden und keine Möglichkeit sahen, das Konto auszugleichen.
...Das hat seinen Grund.
...Guido ist unverheiratet. Er hat keine Kinder, die mal gehütet werden müssten, mag selbstgebackenen Kuchen nicht, fährt nirgendwo hin, hält Wohnung und Garten selbst in Ordnung. Guido feiert nie, lässt sich von niemandem beraten, weil er alles besser weiß, und schneidet sich, so sieht es jedenfalls aus, sogar selbst die Haare. Andererseits ist Guido ein Universalhand-werker – kann alles, macht alles – und drängt sich regelrecht auf. In Christofs Badezimmer hat er die Fliesen geklebt. Als Bodos Diesel mal streikte, hat er den Motor nicht nur wieder in Gang gekriegt, nein, der läuft jetzt ruhiger als zuvor. Für Frank, der in einem Bauernhaus lebt, hat er die Elektroleitungen gelegt. Blitzsauber!
...Kein Wunder also, dass alle Mitglieder von Guido im Laufe der Zeit mehr Leistungen angenommen haben, als sie ihm zurückgeben konnten. Der Umstand war zwar nicht neu, nur wurde er hier zum ersten Mal diskutiert, ziemlich hitzig sogar. Guidos Hinweis, man könne ihm seine Dienste ja auch mit Geld vergüten,

war nicht.geeignet, die Wogen zu glätten. Das Wort Geld hat in unserem Verein einen geradezu obszönen Klang.
...Mein negatives Konto allen anderen gegenüber wurde nur am Rande erwähnt. Das fand ich sehr anständig. Zweiter Punkt der Tagesordnung war das Vereinsfest. Waltraud würde sich um das Essen kümmern, Bodo um den Taxidienst, damit alle einen Schluck trinken könnten. Zu meiner Freude fiel auch mir eine Aufgabe zu. Ich sollte den Vereinsmitgliedern einen bunten Abend gestalten.
...Ach, ich vergaß zu erwähnen, dass ich vom Varieté komme. Mein Freund Knut sagt immer: „Viktor, das hört sich etwas halbseiden an. Nenn dich Zauber-künstler, Magier oder Illusionist!“
...Zu große Worte! Ich kann ein bisschen zaubern, das ist alles. Und meine Auftritte liegen auch schon ein wenig zurück. Das Fernsehen hat die Varietés kaputt gemacht. Zudem ging bei mir damals so dies und jenes schief, persönliches Pech könnte man sagen. Der Strafrichter war allerdings anderer Meinung.
...Strich drunter! Das sagt mein Bewährungshelfer Dr. Hohmann, also Günter auch immer, nur mit anderen Worten: „Was zählt, ist die Zukunft“, sagt er. „Was du brauchst, sind Freunde.“


***

...Diese Worte beschäftigten mich, während ich in den nächsten Tagen die Vorbereitungen für das Fest traf. Guido half mir bei den Requisiten und baute
für den Abend in unserem Vereinslokal eine kleine
Bühne auf.
...Zuerst brachte ich die Nummer mit dem Kaninchen aus dem Zylinder, danach habe ich Anke die Goldtaler aus Nase und Ohren gezogen. Und dann, als Höhe-
punkt, kam mein Trick mit der zersägten Jungfrau.
Ob die Zuschauer Guido unter der Perücke und den angeklebten Wimpern erkannt haben, weiß ich nicht. Er lächelte ein bisschen verkrampft, aber das konnte man der dicken Schminke zuschreiben. Schlank, wie er gebaut ist, passte er genau in meine Trickkiste.
...Unter den erwartungsvollen Augen des Publikums zog ich den Degen. Ein paar Stiche von oben und seitwärts durch die Kiste bildeten den Auftakt. Erster Beifall. Das Klatschen wurde stärker, als ich die Säge ansetzte und das Blut in den Eimer rann, den ich unter die Kiste gestellt hatte. Die verlegenen Gluckser der Männer und das leicht hysterische Auflachen der
Frauen wurden von der Musik übertönt, die während

meiner Schau aus großen Boxen tönte.
...Das Stöhnen aus der Kiste auch.
...Zu einem Trommelwirbel vom Tonband hielt ich
die blutige Säge ins Scheinwerferlicht, dann Licht
aus. Als es wieder aufflammte, war meine „Jungfrau“ verschwunden. Na ja, Sie kennen das sicher vom Fernsehen. Aber winken Sie jetzt nicht ab. Mein Publikum, das die Schau persönlich erlebt hatte, war begeistert. Günter schlug mir anerkennend auf die Schulter und sagte: „Wussten wir doch, Viktor, dass auch du ein Talent hast.“
...Stimmt, aber es ist auch wirklich mein einziges.
...Über das Vereinsfest gibt es sonst nichts mehr zu sagen. Außer vielleicht noch, dass durch meine Vorführung die Talentkonten aller Mitglieder – einschließlich meiner Schulden gegenüber unserem Alleskönner Guido – mit einem Schlage ausgeglichen wurden.
...Denn die „Jungfrau“, die ich an dem bunten
Abend zersägt habe, ist in unserem Verein, den mein Freund Knut als urchristlich bezeichnet, nie wieder aufgetaucht.


Aktualisiert am 1. März 2021 | kontakt@niklaus-schmid.de

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