Niklaus Schmid


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Kurzkrimi Nr. 5

Kurzkrimi Nr. 5


Notsignale

Roland Beck hob die Hand vor die Augen. Die Sonne musste sich an einem Metallteil oder in einer Scheibe der Motorjacht gespiegelt haben, die draußen in der Bucht ankerte.
...Der Strand war menschenleer. Beck ließ sich auf der Dachterrasse des Ferienhauses in den Liegestuhl sinken, um sich erneut in das Buch mit den Prüfungsfragen für den Segelschein zu vertiefen. Da trafen ihn wieder die aufblitzenden Strahlen der Mittelmeersonne.
...Kurz. Lang. In regelmäßigen Abständen.
...Nachdem sich seine Augen von dem grellen Licht erholt hatten, erkannte er auf der Jacht einen Mann, der nun die Arme wie Flügelschläge seitwärts auf und nieder bewegte und über dem Kopf kreuzte.

*

...„Du, Beatrix, da gibt jemand Notsignale“, sagte Beck zu seiner jungen Frau.
...„Meinst du wirklich?“
...„Wer von uns beiden hat denn einen Segelkurs belegt?“, knurrte Beck gereizt. „Und falls du mir mal wieder nicht glauben willst, dann schau dir hier in dem Buch die Zeichnung an!“
...„Tatsächlich. Was sollen wir tun?“
...„Gar nichts“, entschied Beck. „Der soll gefälligst sein Beiboot nehmen und an Land rudern.“
...„Und wenn er keins hat?“, gab seine Frau zu bedenken.
...„Jede Jacht hat eins, und sonst soll er eben schwimmen.“
...„Aber der Vermieter hat uns doch vor der gefährlichen Strömung gewarnt, die nach draußen zieht.“ Sie zog den spitz gefeilten Fingernagel ihres Zeigefingers über seinen Unterarm. „Du könntest mit dem Fischerkahn hinfahren und fragen, was los ist.“
...„Beatrix, das Fischerboot gehört uns nicht.“
...„Aber es gehört zum Haus, das wir gemietet haben, und da draußen ist eventuell ein Menschenleben in Gefahr. Hast du etwa Angst?“
...„Angst? Ich? Wovor?“

...„Na, vielleicht davor, mich allein zu lassen“, sagte sie und lächelte.
...Die Anspielung auf seine Eifersucht bewirkte, dass Roland Beck nun endgültig das Buch zur Seite legte und aufstand.
...Beatrix half ihm, das plumpe Boot ins Wasser zu schieben. Es hatte einen dieser simplen, aber zuverlässigen Außenborder; gleich beim zweiten Ziehen mit der Anlasserschnur sprang der Motor an.
...Die ausrollenden Wellen hatten weiße Kämme. Doch dahinter war das Meer tintenblau, und es bewegte sich nun, da der Wind abgeflaut war, nur noch so träge wie eine dicke Raupe.
...Beck näherte sich der Jacht bis auf Rufweite; drüben an Deck hielt der Mann ein Seil wurfbereit. Es war ein jungenhafter, braungebrannter Typ in gelber Öljacke und kurzen Hosen, seine Haare und der Schnauzbart waren von Sonne und Salzwasser gebleicht.
...Beck fing den Tampen auf, befestigte sein Boot mit einem fachmännischen Knoten, wie er ihn gerade gelernt hatte, und schwang sich an Bord.
...„Haben Sie Schwierigkeiten?“
...„Ja, der Motor tut’s nicht mehr.“
...„Und nur deshalb müssen Sie fremde Leute stören?“

**

...„Entschuldigen Sie, aber mein Beiboot hat sich letzte Nacht losgerissen.“ Der Mann deutete auf ein zerfasertes Tau an der Reling. „Und heute Morgen sprang der Motor nicht mehr an, er muss repariert werden. Allerdings wollte ich das Schiff nicht allein lassen; falls der Wind dreht und sich der Anker löst, treibt es auf ein Riff oder aufs offene Meer.“
...„Soll ich einen Mechaniker holen?“, fragte Beck
...„Ich benötige nur ein Ersatzteil, das ich selbst einbauen kann. Wenn Sie so freundlich wären, an Bord zu bleiben, könnte ich an Land gehen und das Teil besorgen. Sollte sich der Anker lösen, müssten Sie ihn einfach hochholen und dann …“
...„Ist klar“, fiel ihm Beck ins Wort, „ich bin gerade dabei, den Segelschein zu machen.“
„Es macht Ihnen also nichts aus? Prima!“ Der Mann streckte dem Helfer die Hand entgegen. „Mein Name ist Manfredo.“
...„Roland Beck.“
...„Freut mich, Roland. Ich setze mich dann am besten gleich in Ihr Boot und schipper rüber.“
...

...Beck beobachtete, wie Manfredo das Fischerboot geschickt durch die Brandung manövrierte und es dann, den Schwung der letzten Wellen nutzend, an Land zog. Im Laufschritt verschwand der Jachtkapitän zwischen den Dünen.
...Nach einer Stunde wurde es mit sinkender Sonne kühl. Am Steuerrad hing ein Pullover, Beck zog ihn sich über. Im Zündschloss steckte der Anlasserschlüssel; daneben lag der Spiegel, mit dem Kapitän Manfredo vorhin die Signale gegeben hatte.
...Die Jacht sah, aus der Nähe betrachtet, recht vernachlässigt aus. Beck hob die Luke des Motorraums. Auf Anhieb fiel ihm ein loses Kabel auf. Einen passenden Schraubenschlüssel fand er im Werkzeugkasten, der in der Nähe stand. Abgebaute Teile oder Reparaturspuren konnte er jedoch nicht entdecken.
...„Der Typ hat keine Ahnung“, murmelte Beck vor sich hin und begann, das Kabel wieder anzuschrauben. Anschließend stieg er den Niedergang hoch und drehte den Zündschlüssel.

***

...Der Motor sprang an.
...Als Beck den Gashebel vorschob, kam die schwere Maschine sofort auf Touren, die Schraube wirbelte am Heck das Wasser auf, und das Schiff straffte die Ankerkette. Der Motor lief einwandfrei. Beck stoppte ihn. Irgendetwas stimmte hier nicht.
...Er blickte sich in der Kajüte um und fand auch gleich, was er suchte. Mit dem Fernglas in der Hand hastete er an Deck. Nervös drehten seine Finger an der Einstellung. Und dann sah er das Ferienhaus in allen Einzelheiten.
...Ein Mann trat auf die Terrasse, sein Oberkörper war nackt. Manfredo! Er setzte sich in den Liegestuhl, drehte sich um, winkte, schien etwas zu rufen. Eine Frau in Bikini betrat die Terrasse. Beatrix! Sie stellte sich hinter Manfredo, umarmte ihn.
...„Schöne Notsignale!“, schnaufte Beck.
...Er lehnte seine schweißnasse Stirn an die gischtbesprühten Aufbauten. Nach kurzer Zeit hatte er sich wieder in der Gewalt.

...Er legte das Fernglas an den alten Platz zurück. Dann stieg er nochmals in den Motorraum.

~

Als nach einer weiteren Stunde das Fischerboot längsseits der Jacht festmachte, waren Becks Hände wieder ruhig und sauber, seiner Stimme konnte man keinerlei Erregung anmerken. „Haben Sie das Ersatzteil bekommen?“
...„Ja, leider hat es ein bisschen länger gedauert. Vielen Dank, dass Sie …“
...„Schon gut. Ich muss jetzt los. Meine Frau wartet sicher mit dem Essen auf mich.“
...Beck stieg ins Fischerboot, das an der Leine tänzelte. Kaum hatte er sich zum Starten über den Außenbordmotor gebeugt, als das daumendicke Hanftau neben ihm auf die Planken klatschte. Unwillig hob Beck den Kopf. Schräg über ihm lehnte Manfredo mit grinsendem Gesicht an der Reling und spielte mit einem dünnen Kunststoffseil.

****

...„Die Anlasserschnur, her damit! Ja, sind Sie denn wahnsinnig!“, schrie Beck. Schon war das Fischerboot einige Meter von der ankernden Jacht weggetrieben.
...„Mann, so helfen Sie mir doch!“
...„Wie bitte? Ich verstehe Sie nicht, der Wind.“
...„Helfen sollen Sie mir! Das Boot treibt ab!“
...„Helfen? Aber wie denn?“
...„Werfen Sie den Motor Ihrer verdammten Jacht an!“
...„Ist doch kaputt, Roland!“ Damit verschwand Manfredo im Innern seines Schiffes.
...Noch zehn Minuten lang versuchte Beck, aus dem faserigen Hanftau ein dünnes Anlasserseil für den Außenbordmotor zu basteln – ohne Erfolg. Verzweifelt riss er an der Schwungscheibe, aber er schnitt sich nur die Hand auf.
...Beck fluchte. Dass zur selben Zeit das Wasser durch ein faustgroßes Loch ins Innere der Jacht strömte – er hatte das Echolot aus dem Kiel ausgebaut und über Bord geworfen –, bereitete ihm kaum Genugtuung. Sein Boot trieb schnell auf die offene See hinaus, hin zu

einem Horizont, der nur ein schwarzer Strich und scheinbar unendlich war.
...Noch einmal stellte sich Beck in dem schwankenden Fischerboot aufrecht und gab Notsignale, indem er die Arme wie Flügelschläge seitwärts auf und nieder bewegte und über dem Kopf kreuzte. Er sah, wie die Konturen der Küste im Abendnebel verschwanden und ihm war klar, dass die Chance, nach Einbruch der Dunkelheit gesehen und gerettet zu werden, gleich null war. Doch je größer die Entfernung zum Land wurde, desto mehr klammerte er sich an die Hoffnung, dass seine Frau inzwischen die Fischer alarmiert und die Polizei verständigt hatte.

~

Beatrix dachte tatsächlich daran, die Fischer zu alarmieren und die Polizei zu verständigen. Sie stand auf der Dachterrasse, sah das treibende Fischerboot und die Motorjacht, die jetzt, wie es aussah, tiefer im Wasser lag als zuvor. Das schöne Schiff! Sie überlegte, wie sie am schnellsten Hilfe holen konnte.

*****

...Da bemerkte sie, dass auf der sinkenden Jacht ein grellroter Gegenstand an Deck gezerrt wurde. Mit ruhigen Bewegungen pumpte der Mann in der gelben Öljacke Luft in ein Schlauchboot, ließ es ins Wasser gleiten und nahm mit kräftigen Ruderschlägen Kurs auf das Ferienhaus.
...Beatrix erinnerte sich lächelnd, was Manfredo ihr beim Abschied gesagt hatte: „Schön, dass wir deinen Mann mal wieder austricksen konnten. Fehlt nur noch zu unserem Glück, dass dein eifersüchtiger Roland auf die Idee kommt, meine Jacht zu versenken. Mit den zweihunderttausend Piepen von der Versicherung könnten wir beide uns eine schöne Zeit machen …“
...Ja, ein kluger Bursche und ausgesprochen zärtlich und nett! Beatrix dachte auch an die Lebensversicherung ihres Mannes und beschloss zu warten, was auf sie zukäme. Später, aber erst nach Einbruch der Dunkelheit, würde sie ihn suchen lassen. Denn das war sie ihm nach fünf Jahren Ehe schuldig, fand sie.
...Fünf Jahre können eine lange Zeit sein – ein wenig freute sie sich schon auf die Veränderung, die nun in

Gestalt von Manfredo in ihr Leben trat.
...Eigentlich hätte sich der Jachtkapitän dem Strand bereits viel mehr nähern müssen. Das Schlauchboot schien auf der Stelle zu stehen; auch sah es, wie Beatrix jetzt erkennen konnte, seltsam schlaff aus. Der Gummikörper glitt nicht mehr über das Wasser, er verbog sich auf den Wellenkämmen und knickte vom Gewicht des Mannes in der Mitte ein, sodass die Wellen viel Widerstand fanden und das Boot jetzt gar vom Land wegtrugen.
...Der Jachtkapitän musste erkannt haben, dass ihm das Schlauchboot, dem ganz offensichtlich die Luft entwich, nichts mehr nützte. Auch die gelbe Öljacke war nur noch hinderlich. Er zog sie aus und sprang ins Wasser. Mit zunächst kraftvollen, doch zunehmend schwächeren Kraulschlägen versuchte er, sich dem Land zu nähern.
...Der Sog der Strömung war stärker. Das nun völlig schlaffe Schlauchboot, die gelbe Öljacke und der Schwimmer trieben hinaus aufs offene Meer.
...Wie gelähmt schaute Beatrix zu.
...Den Kopf des Schwimmers verlor sie als Erstes aus den Augen.

- ENDE -


Aktualisiert am 1. August 2021 | kontakt@niklaus-schmid.de

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